GROSSE UND KLEINE FLUCHTEN
Eragons
Füße trommelten auf den Boden. Der stampfende Rhythmus seiner
Schritte rührte von den Fersen her, fuhr die Beine hinauf,
durchdrang die Hüften und stieg das Rückgrat hoch, bis er seinen
Schädel erreichte, wo der stete Stoß seine Zähne klappern ließ und
die Kopfschmerzen verschlimmerte, die mit jeder zurückgelegten
Meile stärker zu werden schienen. Anfangs hatte der monotone Takt
des Laufens ihn genervt, aber bald schon hatte er ihn in einen
tranceartigen Zustand versetzt, in dem er nicht mehr nachdachte,
sondern nur noch rannte.
Während Eragons Stiefel auf den Boden
hämmerten, hörte er die spröden Grashalme wie Zweige brechen und
sah kleine Staubwolken aus der rissigen Erde aufsteigen. Vermutlich
hatte es in diesem Teil Alagaësias seit mindestens einem Monat
nicht mehr geregnet. Die trockene Luft entzog seinem Atem die
Feuchtigkeit, sodass seine Kehle schon ganz wund war. So viel er
auch trank, er konnte nicht wettmachen, was Wind und Sonne ihm
raubten.
Daher die Kopfschmerzen.
Der Helgrind lag weit hinter ihm. Allerdings
kam er langsamer voran als erhofft. Hunderte von Galbatorix’
Patrouillen - bestehend aus Soldaten und Magiern - zogen über das
Land und er musste sich oft vor ihnen verstecken. Er hegte keinen
Zweifel, dass sie nach ihm suchten. Am Vorabend hatte er dicht über
dem westlichen Horizont sogar Dorn erblickt. Er hatte sofort einen
Schutzwall um seinen Geist errichtet, sich in einen Graben geworfen
und dort eine halbe Stunde ausgeharrt, bis der riesige rote Drache
wieder hinter dem Rand der Welt verschwunden war.
Eragon hatte beschlossen, möglichst auf
bestehenden Straßen und Pfaden zu reisen. Die Ereignisse der
vergangenen Woche hatten ihn an die Grenzen seiner körperlichen und
emotionalen Belastbarkeit gebracht. Er zog es vor, seinem Körper
eine Verschnaufpause zu gönnen, statt sich mühselig durchs Gestrüpp
zu schlagen, steile Hügel zu erklimmen und durch schlammige Flüsse
zu waten. Er würde sich schon früh genug wieder verausgaben müssen,
aber noch nicht jetzt. Denn solange er auf den Straßen war, wagte
er nicht, so schnell zu rennen, wie er es eigentlich gekonnt hätte.
Genau genommen wäre es klüger gewesen, überhaupt nicht zu rennen.
In der Gegend gab es einige Dörfer und abseitsgelegene Höfe. Ein
einzelner Mann, der die Straße entlanghetzte, als wäre ein Rudel
Wölfe hinter ihm her, würde bestimmt Neugier und Argwohn wecken.
Ein erschrockener Bauer konnte gar auf die Idee kommen, den Vorfall
zu melden. Mit fatalen Folgen für Eragon, dessen bester Schutz die
Anonymität war.
Er rannte nur deshalb, weil ihm seit drei
Meilen außer einer Schlange kein einziges Lebewesen begegnet
war.
Zu den Varden zurückzukehren, war Eragons
dringlichstes Anliegen, und es wurmte ihn, wie ein gewöhnlicher
Vagabund die Straße entlangzutrotten. Trotzdem genoss er die
Gelegenheit, endlich einmal für sich zu sein. Er war nicht mehr
allein gewesen - richtig allein -, seit er im Buckel Saphiras Ei
entdeckt hatte. Immer hatten ihre Gedanken seine berührt oder Brom,
Murtagh oder jemand anderes war an seiner Seite gewesen. Neben der
Bürde fortwährender Gesellschaft hatte Eragon während all der
Monate seit seinem Abschied aus dem Palancar-Tal das anstrengende
Training auf sich genommen, nur unterbrochen von Reisen oder
blutigen Schlachten. Noch nie zuvor hatte er sich über einen so
langen Zeitraum derart intensiv auf etwas konzentriert oder sich
mit so großen Sorgen und Ängsten herumschlagen müssen.
Deshalb genoss er nun die Einsamkeit und die
damit einhergehende Ruhe. Das Fehlen von Stimmen, einschließlich
seiner eigenen, war für ihn wie ein süßes Schlaflied, das für eine
Weile seine Angst vor der Zukunft fortspülte. Er verspürte kein
Bedürfnis, mit der Traumsicht nach Saphira zu sehen. Auch wenn sie
zu weit weg war, um sie mit seinem Geist zu berühren, durch das
Band zwischen ihnen hätte er gewusst, wenn es ihr schlecht ginge.
Mit Arya oder Nasuada wollte er ebenso wenig in Verbindung treten;
sie hätten ihm ohnehin nur gezürnt. Es war viel angenehmer, dem
Gesang der Vögel zu lauschen, dem Seufzen des Windes im Gras und in
den Bäumen.
Das Geräusch bimmelnder Geschirre, von
Hufgetrappel und lauten Männerstimmen riss Eragon aus seinen
Tagträumen. Beunruhigt blieb er stehen und schaute sich um,
versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung sich die Reiter
näherten. Aus einer nahen Bergschlucht kamen zwei schnatternde
Dohlen herausgeschossen.
Das einzige Versteck, das sich Eragon in der
Nähe bot, war eine kleine Gruppe von Wacholderbäumen. Er rannte
darauf zu und hechtete unter die herabhängenden Äste. Im nächsten
Moment kamen sechs Soldaten aus der Schlucht geritten und bogen
keine zehn Schritte von ihm entfernt auf die staubige Straße ein.
Normalerweise hätte Eragon ihre Gegenwart längst gespürt, aber seit
Dorn am Horizont aufgetaucht war, schirmte er seinen Geist vor
seiner Umgebung ab.
Die Soldaten zügelten die Pferde und blieben
mitten auf der Straße stehen. »Ich sag euch, ich hab was gesehen!«,
rief einer der Männer. Er war mittelgroß, hatte rote Wangen und
einen blonden Bart.
Sein Herz hämmerte, Eragon zwang sich,
langsam und ruhig zu atmen. Er prüfte den Sitz des Stirnbands, das
er trug, um sicher zu sein, dass es seine schräg stehenden
Augenbrauen und die spitzen Ohren verdeckte. Ich wünschte, ich würde meine Rüstung
tragen, dachte er. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen,
hatte er sich aus trockenen Ästen und einer Plane, die er einem
Kesselflicker abgekauft hatte, einen Rucksack gebastelt und darin
seine Rüstung verstaut. Nun wagte er nicht, sie hervorzuholen und
anzulegen, aus Angst, die Soldaten könnten es hören.
Der Soldat mit dem blonden Bart stieg von
seinem kastanienbraunen Pferd und lief am Straßenrand entlang. Er
suchte den Boden ab und blickte zu den Wacholderbäumen hinüber. Wie
alle Angehörigen von Galbatorix’ Streitmacht trug er ein rotes
Wams, auf dem eine lodernde, mit Goldfäden umrissene Flamme
prangte. Die Stickarbeit glitzerte in der Sonne. Seine Rüstung war
schlicht - ein Helm, ein ovaler Schild und ein lederner Brustpanzer
-, was darauf hindeutete, dass er wenig mehr war als ein einfacher
Fußsoldat. Seine Bewaffnung: in der rechten Hand eine Lanze, links
an der Hüfte hängend ein Langschwert.
Während der Soldat mit klirrenden Sporen auf
sein Versteck zuschritt, begann Eragon, einen komplizierten
Zauberspruch in der alten Sprache zu murmeln. Die Worte kamen ihm
mühelos über die Lippen, bis er zu seiner Bestürzung eine spezielle
Anhäufung von Vokalen falsch aussprach und von Neuem beginnen
musste.
Der Soldat kam einen weiteren Schritt auf
ihn zu.
Und noch einen.
Gerade als der Mann vor ihm stehen blieb,
beendete Eragon den Zauber und spürte, wie ihm die Kraft
entströmte, als die Wirkung der Magie einsetzte. Allerdings den
Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Soldat hatte ihn bereits
entdeckt, denn er rief: »Aha!«, und schob die Äste
auseinander.
Eragon rührte sich nicht.
Der Soldat schaute ihn direkt an und
runzelte die Stirn. »Was zum...«, murmelte er. Er stieß die Lanze
ins Gebüsch und verfehlte nur um Haaresbreite Eragons Gesicht. Der
bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, als seine
angespannten Muskeln zu zittern begannen. »Ach, was soll’s«, sagte
der Soldat und ließ die Äste los, die zurückschwangen und Eragon
wieder verbargen.
»Was war denn da?«, rief einer der anderen
Männer.
»Nichts«, brummte der Soldat und kehrte zu
seinen Gefährten zurück. Er nahm den Helm ab und wischte sich über
die Stirn. »Meine Augen haben mir einen Streich gespielt.«
»Was erwartet dieser Bastard Braethan von
uns? Seit zwei Tagen haben wir kaum eine Mütze Schlaf
bekommen.«
»Tja, der König muss ganz schön verzweifelt
sein, uns dermaßen auf Trab zu halten. Ehrlich gesagt, ich würde
denjenigen, den er sucht, lieber nicht finden. Ich bin ja kein
Feigling, aber wenn jemand sogar Galbatorix in Unruhe versetzt,
sollten Leute wie wir ihm lieber aus dem Weg gehen. Sollen doch
Murtagh und sein Ungeheuer von einem Drachen den geheimnisvollen
Flüchtling fangen, was?«
»Es sei denn, wir suchen
nach Murtagh«, warf ein dritter Mann
ein. »Ihr habt doch ebenso wie ich gehört, was Morzans Brut gesagt
hat.«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus.
Dann schwang sich der Soldat mit dem blonden Bart wieder auf sein
Pferd, schlang die Zügel um die linke Hand und sagte: »Halt die
Klappe, Derwood. Du quatschst zu viel.«
Damit gaben die Soldaten ihren Pferden die
Sporen und ritten in nördliche Richtung davon.
Als das Hufgetrappel verklungen war, löste
Eragon den Zauber, rieb sich mit den Fäusten die Augen und ließ die
Hände dann auf die Knie sinken. Er musste leise lachen und
schüttelte den Kopf. Es amüsierte ihn, in welch haarsträubender
Lage er sich befand: er, ein einfacher Bauernjunge aus dem
Palancar-Tal. Ich hätte mir nie träumen
lassen, dass mir so etwas widerfährt, dachte er.
Der Zauber, den er gebaucht hatte, bestand
aus zwei Teilen. Der erste lenkte Lichtstrahlen um den Körper herum
und ließ ihn so unsichtbar erscheinen. Der zweite sollte
verhindern, dass andere Zauberkundige den Gebrauch von Magie
bemerkten. Die größten Nachteile des Zaubers waren, dass er die
Fußspuren nicht verbarg - deshalb musste man stocksteif stehen
bleiben - und der eigene Schatten oft nicht völlig
verschwand.
Als er sich unter dem Wacholder
vorgearbeitet hatte, reckte Eragon die Arme über den Kopf, dann
blickte er zu der Schlucht, aus der die Soldaten gekommen waren.
Eine einzige Frage beschäftigte ihn, als er seinen Weg
fortsetzte.
Was hatte Murtagh gesagt?
»Ahh!«
Die schleierhaften Trugbilder seiner
Wachträume verschwanden, als Eragon mit den Händen in die Luft
hieb. Er rollte sich weg von der Stelle, wo er gelegen hatte,
krabbelte ein Stück zurück und sprang mit erhobenen Armen auf, um
einen heransausenden Schlag abzuwehren.
Nächtliche Dunkelheit umfing ihn. Über ihm
setzten die Gestirne ihren endlos kreisenden Himmelstanz fort. Am
Boden regte sich kein einziges Geschöpf und er hörte nichts außer
dem sanften Rauschen des Windes im Gras.
Eragon schickte seinen Geist aus, denn er
war überzeugt, dass ihm ein Angriff drohte. Doch selbst im Umkreis
von tausend Fuß konnte er niemanden entdecken.
Schließlich nahm er die Arme herunter. Sein
Brustkorb hob und senkte sich, seine Haut brannte und er stank nach
Schweiß. In seinem Kopf tobte ein Sturm: ein Wirbel aufblitzender
Klingen und abgeschlagener Gliedmaßen. Einen Moment lang glaubte
er, er wäre in Farthen Dûr und würde gegen Urgals kämpfen, dann
wähnte er sich auf den Brennenden Steppen und kreuzte die Klingen
mit Männern wie ihm. Beides erschien so real, dass er glaubte, von
einem mächtigen Zauber durch Raum und Zeit transportiert worden zu
sein. Er sah die von ihm getöteten Urgals und Menschen, die so
lebensecht wirkten, dass er sich fragte, ob sie gleich zu ihm
sprechen würden. Und obwohl er nicht mehr die Narben seiner Wunden
trug, erinnerte sein Körper sich an die vielen erlittenen
Verletzungen. Schaudernd spürte er wieder, wie ihm die Schwerter
und Pfeile ins Fleisch fuhren.
Mit einem wilden Aufheulen sank Eragon auf
die Knie, schlang die Arme um den Leib, schwankte vor und
zurück. Alles ist
gut... Alles ist gut. Er
drückte die Stirn auf den Boden, rollte sich fest zusammen. Sein
Atem strömte ihm heiß gegen den Bauch.
»Was ist nur los mit mir?«
In den Geschichten, die Brom in Carvahall
erzählt hatte, waren die Helden der Vergangenheit nie von solchen
Visionen heimgesucht worden. Keiner der ihm bekannten
Varden-Krieger hatte je durchblicken lassen, dass das Blutvergießen
ihm zu schaffen machte. Und obwohl Roran zugab, dass ihm das Töten
missfiel, schreckte er nachts nicht schreiend aus dem Schlaf.
Ich bin
schwach, dachte Eragon. Ein
Mann sollte keine solchen Gedanken haben. Ein Drachenreiter sollte
keine solchen Gedanken haben. Garrow oder Brom wäre es gut
gegangen, das weiß ich. Sie taten, was sie tun mussten, und damit
hatte es sich. Sie haben nicht rumgejammert und ewig nachgegrübelt
und mit den Zähnen geknirscht... Ich bin schwach.
Er sprang auf und lief im Kreis um seine
Schlafstatt im Gras, um sich zu beruhigen. Als ihm nach einer
halben Stunde die Anspannung noch immer die Brust zuschnürte und
seine Haut kribbelte, als würden darauf Tausende Ameisen
herumkrabbeln, packte Eragon kurzerhand seine Sachen und rannte
los. Ihm war gleich, was ihn in der unbekannten Dunkelheit
erwartete oder wer seinen überstürzten Aufbruch bemerken
mochte.
Er wollte nur seinen Albträumen entfliehen.
Sein Geist hatte sich gegen ihn gewandt und er konnte sich nicht
darauf verlassen, dass sein Verstand die aufwallende Panik
vertreiben würde. Seine einzige Hoffnung lag darin, der
animalischen Weisheit seines Fleisches zu vertrauen, und es
forderte ihn auf, sich zu bewegen.
Wenn er schnell und lange genug rannte, konnte er sich vielleicht
wieder im Hier und Jetzt verankern. Vielleicht würden die kühle
Nachtluft auf seiner Haut, das Geräusch seiner Schritte, die Nässe
seines Schweißes und die Myriaden anderer Sinneseindrücke ihn durch
ihre Übermacht dazu zwingen, zu vergessen.
Vielleicht.
Ein Schwarm Stare schoss über den
Nachmittagshimmel wie Fische durch den Ozean.
Eragon blickte ihnen nach. Im Palancar-Tal,
wohin die Stare im Frühjahr zurückkehrten, bildeten sie oft so
große Gruppen, dass sie den Tag zur Nacht machten. Dieser Schwarm
hier war nicht so riesig. Aber er erinnerte ihn an die Abende, als
er mit Roran und Garrow auf der Veranda Pfefferminztee getrunken
und dabei die umhersausende schwarze Wolke beobachtet hatte.
Gedankenverloren hielt er inne und setzte
sich auf einen Fels, um sich die Stiefel neu zu schnüren.
Das Wetter war umgeschlagen: Es war kühler
geworden und der graue Schmierfleck im Westen deutete auf einen
aufziehenden Sturm hin. Die Vegetation war üppig, mit Moos und
Schilf und grünen Wiesen. Einige Meilen entfernt erhoben sich fünf
Hügel aus dem ansonsten flachen Land. Den mittleren krönte ein
dichter Eichenhain. Verschwommen erkannte Eragon zwischen den
Bäumen die bröckelnden Mauern eines lange verlassenen Gebäudes, das
irgendein Volk vor Urzeiten erbaut hatte.
Seine Neugier war geweckt, und so beschloss
Eragon, zwischen den Ruinen ein bisschen Abwechslung in seine sonst
fleischlose Kost zu bringen. Bestimmt gab es dort viele Tiere, und
eine kleine Jagd bot einen Vorwand, sich ein bisschen umzuschauen,
bevor er seinen Weg fortsetzte.
Nach einer Stunde erreichte Eragon den Fuß
des ersten Hügels und traf dort auf die Überreste einer uralten,
mit kleinen Steinquadern kunstvoll gepflasterten Straße. Er folgte
ihr hinauf zu den Ruinen und wunderte sich dabei über ihre
ungewöhnliche Bauweise. Bei den Menschen, Elfen oder Zwergen hatte
er so etwas noch nie gesehen.
Während er den mittleren Hügel erklomm, fand
Eragon im Schatten der Bäume ein wenig Abkühlung. Nahe dem Gipfel
wurde es flacher und der Eichenhain öffnete sich zu einer weiten
Lichtung. Auf ihr stand ein Turm ohne Spitze. Der untere Teil war
breit und wie ein Baumstamm geriffelt. Danach verjüngte er sich,
erhob sich mehr als dreißig Fuß in den Himmel und endete in einer
scharf gezackten Linie. Die obere Turmhälfte lag auf dem Boden, in
unzählige Bruchstücke zerschmettert.
Erregung packte Eragon. Vermutlich hatte er
hier einen elfischen Außenposten entdeckt, der lange vor dem Ende
der Drachenreiter erbaut worden war. Kein anderes Volk besaß das
Geschick oder den Sinn für solche Bauwerke.
Dann entdeckte er einen Gemüsegarten auf der
anderen Seite der Lichtung.
Ein Mann saß gebückt zwischen den Pflanzen
und jätete Unkraut in einem Zuckererbsenbeet. Sein Gesicht lag im
Schatten. Sein Bart war so lang, dass die Haare wie ein Haufen
ungesponnene Wolle auf seinem Schoß lagen.
»Nun, hilfst du mir beim Jäten?«, fragte der
Mann, ohne aufzuschauen. »Wenn ja, bringt dir das eine Mahlzeit
ein.«
Eragon zögerte, wusste nicht, was er tun
sollte. Dann dachte er: Warum sollte ich
mich vor einem alten Einsiedler fürchten?, und ging zu
ihm hinüber. »Ich bin Bergan... Bergan, Sohn von Garrow.«
Der Alte brummte. »Tenga, Sohn von
Ingvar.«
Eragon stellte den Rucksack ab, in dem die
Rüstung klapperte. Die nächste Stunde arbeitete er schweigend an
Tengas Seite. Er wusste, er sollte nicht so lange bleiben, aber es
machte ihm Spaß. Die Arbeit hielt ihn vom Grübeln ab. Während er
Unkraut jätete, schickte er seinen Geist aus und berührte die
vielen Lebewesen auf der Lichtung. Er genoss das Gefühl der
Verbundenheit mit ihnen.
Nachdem sie auch die letzten Reste Gras,
Portulak und Löwenzahn zwischen den Erbsen herausgerissen hatten,
folgte Eragon Tenga zu einer schmalen Tür im Turm. Dahinter lagen
eine geräumige Küche und ein Esszimmer. In der Mitte des Raumes
führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Überall lagen Bücher,
Schriftrollen und stapelweise Pergament, sogar auf dem
Fußboden.
Tenga zeigte auf den kleinen Holzhaufen in
der Feuerstelle. Knisternd gingen die Äste in Flammen auf. Eragon
spannte sich an, bereit für einen körperlichen und geistigen
Zweikampf mit Tenga.
Der Alte schien seine Reaktion gar nicht zu
bemerken. Er wuselte geschäftig in der Küche herum, holte für ihr
Mittagessen Becher, Geschirr und Messer heraus und stellte Reste
seiner letzten Mahlzeit auf den Tisch. Währenddessen murmelte er
leise in seinen wallenden Rauschebart.
Alle Sinne geschärft, setzte Eragon sich auf
eine freie Stuhlecke. Er hat nicht die
alte Sprache benutzt, dachte er. Und selbst wenn er den Zauberspruch im Geiste gesagt
hat, hat er den Tod oder Schlimmeres riskiert, nur um ein Feuer
anzuzünden! Denn wie Oromis ihn gelehrt hatte, waren
Worte das Instrument, um die Freisetzung eines Zaubers zu
kontrollieren. Nur so ließ sich verhindern, dass die Wirkung des
Zaubers durch ein Abschweifen der Gedanken oder andere Ablenkungen
verzerrt oder verfälscht wurde.
Eragon blickte sich um, suchte nach
Hinweisen auf seinen Gastgeber. Er bemerkte eine offene
Schriftrolle, die mit Textspalten in der alten Sprache bedeckt war,
und erkannte sie als ein Kompendium wahrer Namen. Es ähnelte dem,
das er in Ellesméra studiert hatte. Magier waren ganz versessen auf
solche Schriften und Bücher und gaben fast alles dafür, sie zu
besitzen. Sie dienten dazu, neue Zauberworte zu erlernen und auch
eigene Sprüche darin zu notieren. Aber nur die Allerwenigsten
wurden eines solchen Werkes habhaft, da sie extrem selten waren.
Wer eines hatte, trennte sich nicht freiwillig davon.
Daher war es höchst ungewöhnlich, dass Tenga
ein solches Kompendium besaß. Aber zu seinem Erstaunen entdeckte
Eragon im Raum noch sechs weitere dieser Werke, unter zahllosen
Schriften aus den Bereichen Geschichte, Mathematik, Astronomie und
Botanik. Tenga stellte ihm einen gefüllten Bierkrug und einen
Teller mit Brot, Käse und kaltem Fleisch hin.
»Danke«, sagte Eragon.
Der Alte beachtete ihn nicht weiter, setzte
sich im Schneidersitz vor das Feuer und verzehrte murmelnd seine
Mahlzeit.
Nachdem Eragon mit einem Stück Brot den
Teller sauber gewischt und das ausgezeichnete Bier bis auf den
letzten Tropfen ausgetrunken hatte, fragte er Tenga, der ebenfalls
aufgegessen hatte: »Wurde der Turm von den Elfen erbaut?«
Der Alte sah ihn durchdringend an, als würde
die Frage ihn an Eragons Intelligenz zweifeln lassen. »Wer denn
sonst? Natürlich haben die raffinierten Elfen Edur Ithindra
gebaut.«
»Und was tust du hier? Bist du ganz allein
oder -«
»Ich suche die Antwort!«, rief Tenga aus.
»Den Schlüssel zu einer verschlossenen Tür, das Geheimnis der Bäume
und Pflanzen. Feuer, Hitze, Blitze, Licht... Die meisten kennen
nicht einmal die Frage und verbringen ihr Leben als Unwissende.
Andere kennen sie, fürchten sich aber vor der Antwort. Pah! Seit
Jahrtausenden leben wir wie Wilde! Wie Wilde! Dem werde ich ein
Ende machen. Ich werde das Zeitalter des Lichts einläuten und alle
werden mich dafür preisen.«
»Sag bitte, wonach genau suchst du?«
Tenga runzelte die Stirn. »Du kennst die
Frage nicht? Ich dachte, das würdest du. Ich habe mich wohl
getäuscht. Trotzdem, ich merke, dass du meine Suche verstehst. Du
selbst suchst nach einer anderen Antwort, aber auch du bist ein
Pilger. In unseren Herzen brennt das gleiche Feuer. Nur ein Pilger
begreift, was wir opfern müssen, um die Antwort zu finden.«
»Die Antwort worauf?«
»Auf die von uns gewählte Frage.«
Er ist
verrückt, dachte Eragon. Er hielt nach etwas Ausschau,
mit dem er Tenga ablenken konnte, als sein Blick auf eine Reihe
kleiner Figuren von Waldtieren fiel, die auf einem Brett unter dem
tropfenförmigen Fenster standen. »Die sind wunderschön«, sagte er
und deutete darauf. »Wer hat sie erschaffen?«
»Das war sie... bevor sie ging. Sie hat ständig irgendwelche
Dinge erschaffen.« Tenga sprang auf und legte die linke
Zeigefingerspitze auf die erste Figur. »Hier, das Eichhörnchen mit
dem wedelnden Schwanz... so klug und geschwind und gewitzt.« Sein
Finger wanderte zum nächsten Tier. »Hier das Wildschwein mit den
tödlichen Reißzähnen... Hier der Rabe mit...«
Tenga beachtete ihn nicht, als Eragon
zurückwich, den Türriegel hob und aus dem Turm schlüpfte. Mit
geschultertem Rucksack trottete er durch den Eichenhain hangabwärts
und ließ die fünf Hügel und den wahnsinnigen Zauberer hinter
sich.
In den Abendstunden und auch am nächsten Tag
wurden die Menschen auf der Straße immer zahlreicher, bis es Eragon
vorkam, als würden an jeder Biegung neue Leute dazukommen. Die
meisten davon Flüchtlinge, obwohl auch Soldaten und reisende
Händler darunter waren. Er vermied jeden Kontakt und hielt die
meiste Zeit den Kopf gesenkt.
Allerdings hatte das zur Folge, dass er die
Nacht in Eastcroft verbringen musste, einem Dorf zwanzig Meilen
nördlich von Melian. Eigentlich hatte er die Straße lange vor
seiner Ankunft in Eastcroft verlassen und sein Nachtlager in einer
Senke oder Höhle aufschlagen wollen. Aber da er die Gegend nicht
wirklich kannte, schätzte er die Entfernung falsch ein und näherte
sich plötzlich bereits dem Dorf in Gesellschaft von drei
Waffenknechten. Nun noch zu verschwinden, wo die sicheren Mauern
Eastcrofts und ein gemütliches Bett kaum eine Wegstunde entfernt
lagen, hätte selbst den größten Dummkopf überlegen lassen, warum er
- Eragon - das Dorf meiden wollte. Deshalb fügte er sich in sein
Schicksal und ging im Geiste die Geschichte durch, die er sich
zurechtgelegt hatte, um seine Reise zu erklären.
Der riesig erscheinende Sonnenball stand
zwei Fingerbreit über dem Horizont, als Eragon das erste Mal
Eastcroft erblickte, ein mittelgroßes, von einer hohen
Palisadenmauer umschlossenes Dorf. Es war fast dunkel, als er es
schließlich erreichte und durch das Tor schritt. Er hörte, wie der
Wachmann die Waffenknechte fragte, ob hinter ihnen noch jemand auf
der Straße unterwegs gewesen wäre.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Oh, das reicht mir als Auskunft«, sagte der
Wachmann. »Falls noch irgendwelche Nachzügler eintreffen, müssen
sie bis morgen warten, um reinzukommen.« Einem Mann, der auf der
anderen Seite des Tores stand, rief er zu: »Schließen wir es!«
Zusammen schoben sie das fünfzehn Fuß hohe, eisenbeschlagene Tor zu
und verriegelten es mit vier dicken Eichenbalken.
Als würden sie eine
Belagerung erwarten, dachte Eragon, dann musste er über
sich selbst lächeln. Nun, wer rechnet
heutzutage nicht mit Schwierigkeiten? Noch vor einigen
Monaten hätte es ihm Sorgen bereitet, in Eastcroft eingeschlossen
zu sein. Heute aber war er überzeugt, die Stadtbefestigung mit
bloßen Händen überwinden zu können. Niemand würde seine Flucht ins
Dunkel der Nacht bemerken, wenn er sich mithilfe von Magie verbarg.
Aber er zog es vor zu bleiben, denn er war todmüde, und einen
Zauber zu wirken, hätte die Aufmerksamkeit anderer Magier wecken
können, die sich möglicherweise in der Nähe aufhielten.
Nachdem er erst wenige Schritte auf der
staubigen Straße in Richtung Dorfplatz gemacht hatte, blaffte ihn
ein Wachmann an und streckte ihm eine Laterne ins Gesicht. »Bleib
stehen! Du warst noch nie in Eastcroft, oder?«
»Das ist mein erster Besuch.«
Der stämmige Wachmann legte den Kopf schräg.
»Hast du hier Familie oder Freunde, die du besuchst?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Und was führt dich nach Eastcroft?«
»Nichts. Ich bin auf der Durchreise nach
Süden, um die Familie meiner Schwester abzuholen und nach
Dras-Leona zurückzubringen.« Der Wachmann nahm die Erklärung
teilnahmslos hin. Vielleicht glaubt er
mir nicht, überlegte Eragon. Oder er hat schon so viele Geschichten wie meine gehört,
dass sie ihn nicht mehr interessieren.
»Dann geh zum Haus der Reisenden, gleich am
Hauptbrunnen. Dort findest du Kost und Logis. Aber sei gewarnt, wir
in Eastcroft kennen keine Gnade mit Mördern, Dieben oder Bettlern.
Wir haben kräftige Prügelstöcke und einen feinen Galgen. Hast du
verstanden, Bursche?«
»Ja, Herr.«
»Dann geh jetzt. Nein, warte! Wie heißt du,
Fremder?«
»Bergan.«
Daraufhin setzte der Wachmann seine
abendliche Runde fort. Eragon wartete, bis das Laternenlicht hinter
der nächsten Hausecke verschwunden war, bevor er zum
Nachrichtenbrett hinüberging, das links von den Toren hing.
Über einem halben Dutzend Steckbriefen von
gesuchten Verbrechern hingen zwei große Pergamente. Eines zeigte
Eragon, das andere Roran. Beide wurden als Verräter an der Krone
bezeichnet. Interessiert betrachtete Eragon die Plakate und staunte
über die ausgesetzte Belohnung: Wer einen der Gesuchten fing, bekam
eine ganze Grafschaft. Die Zeichnung von Roran war ziemlich
treffend, sogar mit Vollbart, den er seit seiner Flucht aus
Carvahall trug. Eragons Porträt hingegen zeigte ihn so, wie er vor
der Blutschwur-Zeremonie ausgesehen hatte, als seine Züge noch rein
menschlich gewesen waren.
Wie die Dinge sich doch
verändert haben, dachte er.
Dann ging er durchs Dorf und fand das Haus
der Reisenden. Der Schankraum hatte eine niedrige Decke mit
teerbefleckten Balken. Gelbe Talgkerzen verströmten warmes
flackerndes Licht und erfüllten die Luft mit wabernden
Rauchschwaden. Sand und Stroh bedeckten den Boden und knirschten
unter Eragons Stiefeln. Zu seiner Linken gab es Tische und Stühle
und eine große Feuerstelle, an der ein kleiner Junge ein Schwein am
Spieß drehte. Gegenüber befand sich ein langer Tresen, an dem sich
Horden durstiger Männer drängelten.
Etwa sechzig Gäste füllten den Raum bis auf
den letzten Platz. Das Stimmengewirr wäre für Eragon nach seiner
ruhigen Wanderschaft allein schon erschreckend genug gewesen, aber
wegen seines sensiblen Gehörs fühlte er sich, als würde er mitten
in einem dröhnenden Wasserfall stehen. Es fiel ihm schwer, sich auf
eine Stimme zu konzentrieren. Sobald er ein Wort oder gar einen
ganzen Satz aufgeschnappt hatte, übertönte diesen schon der nächste
Wortschwall. In einer Ecke sangen drei Spielleute eine
humoristische Version von »Liebliche Aethrid o’ Dauth« und
verstärkten damit den Lärm noch.
Durch die sperrfeuerartigen Gespräche bahnte
Eragon sich einen Weg zum Tresen. Er wollte die Bedienung
ansprechen, aber die Frau war zu beschäftigt. Es dauerte fünf
Minuten, bis sie ihn bemerkte und fragte: »Womit kann ich dienen?«
Haarsträhnen hingen ihr ins verschwitzte Gesicht.
»Hast du ein Zimmer für mich? Oder
irgendeine Ecke, wo ich schlafen kann?«
»Keine Ahnung. Frag die Hausherrin. Sie
kommt gleich runter.« Dann deutete sie in Richtung der schummrigen
Treppe.
Während er wartete, lehnte Eragon sich an
den Tresen und musterte die Leute. Es war eine bunte Mischung. Etwa
die Hälfte stammte aus Eastcroft und veranstaltete ein nächtliches
Trinkgelage. Die meisten anderen waren Männer und Frauen - oft
ganze Familien - auf der Flucht in eine sicherere Gegend. Eragon
erkannte sie an den abgetragenen Hemden und schmutzigen Hosen und
daran, wie sie auf ihren Stühlen kauerten und jeden musterten, der
ihnen nahe kam. Sie vermieden es jedoch sorgsam, zur letzten und
kleinsten Gruppe der Gäste hinüberzublicken: Galbatorix’ Soldaten.
Die Männer in den roten Wämsern machten mehr Lärm als alle anderen.
Sie lachten und brüllten und schlugen mit ihren gepanzerten Fäusten
auf die Tische, während sie Bier soffen und jede Frau angrapschten,
die dumm genug war, ihnen zu nahe zu kommen.
Benehmen sie sich so,
weil sie wissen, dass niemand es wagt, gegen sie aufzubegehren, und
sie es genießen, ihre Macht zu demonstrieren?, fragte
sich Eragon. Oder weil man sie gezwungen hat,
sich Galbatorix’ Heer anzuschließen, und sie ihre Scham und ihre
Angst mit ihrer Ausgelassenheit zu betäuben versuchen?
Die Spielleute sangen jetzt:
So eilte die liebliche
Aethrid o’ Dauth
zu Graf Edel und rief: »Lasst meinen Geliebten
frei. Sonst verwandelt Euch die Hexe
in einen dummen Vogel Strauß!«
Doch Graf Edel, ja, der lachte nur
und ging zurück ins schmucke Haus.
zu Graf Edel und rief: »Lasst meinen Geliebten
frei. Sonst verwandelt Euch die Hexe
in einen dummen Vogel Strauß!«
Doch Graf Edel, ja, der lachte nur
und ging zurück ins schmucke Haus.
Die Menge teilte sich und gewährte Eragon
einen Blick auf einen Tisch an der Wand. Eine einzelne Frau saß
dort, ihr Gesicht verborgen unter der Kapuze eines Reiseumhangs.
Vier Männer umringten sie; alles große, grobschlächtige Bauern mit
kräftigen Stiernacken und vom Alkohol geröteten Wangen. Zwei von
ihnen lehnten neben der Frau an der Wand, einer saß verkehrt herum
auf einem Stuhl vor ihr und der vierte hatte den Stiefel auf die
Kante des niedrigen Tisches gestellt und stützte sich auf das Knie.
Die Männer redeten laut und ungezwungen. Obwohl Eragon nicht
verstehen konnte, was die Frau sagte, war es für ihn
offensichtlich, dass ihre Antwort die Bauern verärgerte. Sie
funkelten sie an, warfen sich in die Brust und plusterten sich auf
wie Gockel. Einer von ihnen deutete drohend mit einem Finger auf
sie.
Für Eragon sahen sie aus wie anständige,
schwer arbeitende Männer, deren Manieren ihnen in den Bierkrügen
abhandengekommen waren. Diese Unsitte hatte er an Feiertagen in
Carvahall schon allzu oft erlebt. Garrow hatte keinen Respekt vor
Männern gehabt, die ihr Bier nicht vertrugen und trotzdem darauf
bestanden, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. »Es ist
unschicklich«, hatte er gesagt. »Wenn man nicht aus Spaß trinkt,
sondern um sein Schicksal zu ersäufen, dann sollte man das zu Hause
tun, wo man niemanden stört.«
Plötzlich beugte sich der Mann zur Linken
der Frau vor und schob ihr einen Finger unter die Kapuze, als
wollte er sie zurückstreifen. Fast zu schnell für Eragons Auge
packte die Frau das Handgelenk des zudringlichen Kerls, dann ließ
sie es jedoch wieder los, als sei nichts geschehen. Eragon
bezweifelte, dass irgendjemand im Schankraum die Bewegung bemerkt
hatte, wahrscheinlich nicht einmal der Mann selbst.
Die Kapuze fiel zurück und Eragon fuhr
verblüfft zusammen. Die Frau war ein Mensch, sah aber aus wie Arya.
Der einzige Unterschied waren ihre Augen - die rund waren und nicht
schräg standen wie bei einer Katze - und die Ohren, denen die
spitze elfische Form fehlte. Sie war genauso schön wie Arya, aber
auf eine weniger exotische, vertrautere Weise.
Ohne zu zögern, schickte Eragon seinen Geist
nach ihr aus. Er musste wissen, wer diese Frau war.
Sobald er ihr Bewusstsein berührte, wurde
Eragon von einem geistigen Schlag getroffen, der seine
Konzentration zerstörte. Dann hallte in seinem Kopf ein
ohrenbetäubender Ausruf wider: Eragon!
Arya?
Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke,
bevor die Menge sich wieder verdichtete und die Elfe verbarg.
Eragon eilte durch den Schankraum an ihren
Tisch, schob die dicht gedrängt stehenden Leiber beiseite, die ihm
den Weg versperrten. Als er aus dem Gewühl trat, sahen die Bauern
ihn scheel an und einer sagte: »Was willst du, Bursche? Ganz schön
frech, wie du hier in unsere Runde platzt. Verzieh dich!«
So höflich wie möglich sagte Eragon: »Meine
Herren, mir scheint, die Dame möchte lieber in Ruhe gelassen
werden. Ihr wollt Euch doch nicht über die Wünsche einer ehrbaren
Frau hinwegsetzen, oder?«
»Ehrbare Frau?«, lachte einer der Männer.
»Ehrbare Frauen reisen nicht alleine.«
»Dann lasst mich Eure Sorge zerstreuen, denn
ich bin ihr Bruder und wir sind auf dem Weg nach Dras-Leona zu
unserem Onkel.«
Die vier Männer wechselten unbehagliche
Blicke. Drei von ihnen wichen von Arya zurück, aber der vierte
baute sich vor Eragons Nase auf und schnaufte ihm ins Gesicht. »Ich
bin nicht sicher, ob ich dir glauben soll,
Bursche. Du willst uns doch bloß verscheuchen, damit du sie
für dich hast.«
Er liegt gar nicht so
falsch, dachte Eragon.
Mit so leiser Stimme, dass nur der Mann ihn
verstand, erklärte Eragon: »Ich versichere Euch, sie ist meine
Schwester. Ich möchte keinen Ärger mit Euch. Würdet Ihr bitte
gehen?«
»Nein, denn ich glaube, du bist ein
Lügenbold.«
»Herr, seid vernünftig. Es besteht kein
Grund, so unhöflich zu sein. Die Nacht ist jung, und es gibt jede
Menge Wein und Gesang, an dem man sich ergötzen kann. Lasst uns
wegen eines kleinen Missverständnisses nicht streiten. Das ist doch
unter unserer Würde.«
Zu Eragons Erleichterung entspannte sich der
Mann und raunte spöttisch: »Gegen einen Jüngling wie dich würde ich
sowieso nicht kämpfen.« Dann wandte er sich um und ging mit seinen
Freunden zum Tresen.
Den Blick auf die Menschenmenge gerichtet,
setzte Eragon sich zu Arya an den Tisch. »Was tust du hier?«,
fragte er, wobei er die Lippen kaum bewegte.
»Dich suchen.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu und
sie hob eine Augenbraue. Er schaute wieder auf die Menge, gab vor
zu lächeln und fragte: »Bist du allein?«
»Jetzt nicht mehr... Hast du dir für die
Nacht ein Zimmer genommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Ich habe eins. Dort können wir
reden.«
Sie standen auf und er folgte ihr zur Treppe
im hinteren Teil des Schankraums. Die ausgetretenen Stufen ächzten
unter ihren Schritten, während sie in den ersten Stock stiegen.
Eine einzelne Kerze erhellte den holzgetäfelten Korridor. Arya
führte Eragon zur letzten Tür auf der rechten Seite und zog einen
eisernen Schlüssel aus dem weiten Ärmel ihres Umhangs. Sie sperrte
auf, betrat das Zimmer und wartete, bis Eragon ihr gefolgt war;
dann schloss sie die Tür wieder und verriegelte sie von
innen.
Von einer Laterne auf der anderen Seite des
Marktplatzes fiel ein schwacher orangefarbener Lichtschein durch
das bleiverglaste Fenster. Eragon konnte darin die Umrisse einer
Öllampe erkennen, die rechts von ihm auf einem niedrigen Tisch
stand.
»Brisingr«, flüsterte er und zündete den Docht
mit einem Funken an, der ihm aus dem Finger sprang.
Trotz der brennenden Öllampe blieb es im
Zimmer relativ dunkel. Der Raum war wie der Korridor getäfelt und
das kastanienfarbene Holz schluckte einen Großteil des Lichts. So
wirkte der Raum klein und erdrückend, als würde ein großes Gewicht
die Wände zusammenpressen. Das einzige Möbelstück neben dem Tisch
war ein schmales Bett mit einer dünnen Decke, auf der ein kleines
Bündel mit Proviant lag.
Eragon und Arya standen sich gegenüber. Er
nahm das Stirnband ab, die Elfe öffnete die Brosche, die den Umhang
zusammenhielt, und legte ihn aufs Bett. Darunter trug sie ein
waldgrünes Kleid. Es war das erste Mal, dass er sie in einem
sah.
Es war eine seltsame Erfahrung für Eragon,
dass sie die Rollen plötzlich getauscht hatten: Er sah aus wie ein
Elf und sie wie ein Mensch. Die Verwandlung änderte nichts an
seiner Hochachtung für sie, nur fühlte er sich jetzt in ihrer
Gegenwart entspannter, da Arya ihm nicht mehr so fremd
erschien.
Die Elfe brach das Schweigen. »Saphira sagt,
du seist zurückgeblieben, um den letzten Ra’zac zu töten und den
Helgrind zu erkunden. Ist das die Wahrheit?«
»Teilweise.«
»Und wie lautet die ganze Wahrheit?«
Mit weniger würde sie sich nicht
zufriedengeben, das wusste Eragon. »Versprich mir, dass du ohne
meine Erlaubnis niemandem verrätst, was ich dir erzähle.«
»Ich verspreche es«, sagte sie in der alten
Sprache.
Dann erzählte er ihr von Sloan, warum er ihn
nicht zu den Varden gebracht hatte und von seinem Fluch, der dem
Metzger die Chance gab, sich zu bessern und das Augenlicht
zurückzuerlangen. »Was auch geschieht«, beendete er seinen Bericht,
»Roran und Katrina dürfen niemals erfahren, dass Sloan noch lebt.
Sollten sie es herausfinden, gäbe es nur endlose
Scherereien.«
Arya setzte sich auf die Bettkante und
starrte lange auf die flackernde Flamme der Öllampe. »Du hättest
ihn töten sollen«, sagte sie schließlich.
»Vielleicht, aber ich konnte es
nicht.«
»Dass einem eine Aufgabe missfällt, ist noch
lange kein Grund, sich vor ihr zu drücken. Du warst feige.«
Ihr Vorwurf erzürnte Eragon. »Ach wirklich?
Jeder, der fähig ist, ein Messer zu halten, hätte Sloan umbringen
können. Was ich getan habe, war viel schwieriger.«
»Körperlich vielleicht, aber nicht in
moralischer Hinsicht.«
»Ich habe ihn nicht getötet, weil ich es für
falsch hielt.« Eragon legte die Stirn in Falten, während er nach
den richtigen Worten suchte, sein Verhalten zu erklären. »Ich hatte
keine Angst davor … Im Kampf töte ich ja auch, ohne zu zögern...
Aber ich fälle kein Urteil darüber, wer leben darf und wer sterben
muss. Dazu fehlt mir die Erfahrung und die Weisheit... Jeder Mensch
hat eine Grenze, die er nicht überschreitet, Arya, und meine habe
ich gefunden, als ich auf Sloan hinunterblickte. Selbst wenn
Galbatorix mein Gefangener wäre, würde ich ihn nicht töten. Ich
würde ihn zu Nasuada und König Orrin bringen, und falls sie ihn zum
Tode verurteilten, würde ich ihm freudig den Kopf abschlagen, aber
vorher nicht. Meinetwegen nenne es Schwäche, aber so bin ich nun
mal und ich werde mich nicht dafür entschuldigen.«
»Willst du lieber ein Werkzeug in den Händen
anderer sein?«
»Ich werde den Völkern, so gut ich kann,
dienen. Ich habe nie nach Führerschaft gestrebt. Alagaësia braucht
nicht noch einen Tyrannenkönig.«
Arya rieb sich die Schläfen. »Warum muss bei
dir immer alles so kompliziert sein, Eragon? Egal wo du hingehst,
überall bringst du dich in Schwierigkeiten. Es ist so, als würdest
du dich absichtlich durch jedes Dornengestrüpp kämpfen, das es im
Land gibt.«
»Deine Mutter hat mehr oder weniger das
Gleiche gesagt.«
»Das überrascht mich nicht... Nun, sei’s
drum. Keiner von uns beiden ist gewillt, seine Meinung zu ändern,
und wir haben dringlichere Sorgen, als über Gerechtigkeit und Moral
zu streiten. In Zukunft tätest du allerdings gut daran, dich zu
erinnern, wer du bist und was du für die Völker Alagaësias
bedeutest.«
»Das vergesse ich nie.« Eragon machte eine
Pause, wartete auf eine Antwort, doch Arya ließ seine Bemerkung
unkommentiert. An die Tischkante gelehnt, erklärte er: »Du hättest
nicht nach mir suchen müssen. Es war alles in Ordnung.«
»Natürlich musste ich es tun.«
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ich habe überlegt, welchen Weg du vom
Helgrind aus nehmen würdest. Zum Glück lag ich einigermaßen
richtig, als ich an einem Ort vierzig Meilen westlich von hier
landete. Das war nahe genug, um dich aufzuspüren, indem ich dem
Flüstern der Natur lauschte.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ein Drachenreiter bewegt sich nicht
unbemerkt auf dieser Welt, Eragon. Wer Ohren hat, um zu hören, und
Augen, um zu sehen, kann die Zeichen mühelos lesen. Die Vögel
verkünden dein Kommen, die Tiere am Boden wittern dich und die
Bäume und Gräser erinnern sich an deine Berührung. Das Band
zwischen einem Reiter und seinem Drachen ist so stark, dass jene,
die für die Schwingungen in der Natur empfänglich sind, es spüren
können.«
»Den Trick musst du mir irgendwann mal
beibringen.«
»Es ist kein Trick, lediglich die Kunst, auf
das zu achten, was einen umgibt.«
»Aber warum bist du nach Eastcroft gekommen?
Es wäre doch sicherer gewesen, sich außerhalb des Dorfes zu
treffen.«
»Die Umstände haben mich dazu gezwungen, wie
dich vermutlich auch. Du bist ebenfalls nicht freiwillig hier,
oder?«
»Stimmt...« Er lockerte die Schultern,
erschöpft vom langen Tagesmarsch. Doch er schob die Müdigkeit
beiseite und deutete auf ihr Kleid. »Hast du Hemd und Hose
endgültig abgelegt?«
Ein leises Lächeln umspielte Aryas Lippen.
»Nein, nur für die Dauer dieser Reise. Ich habe jahrzehntelang
unter den Varden gelebt, und trotzdem vergesse ich immer wieder,
wie gerne es die Menschen sehen, dass Männer und Frauen sich
unterschiedlich kleiden. Ich konnte mich nie dazu überwinden, eure
Sitten und Gebräuche anzunehmen, auch wenn ich viele
Verhaltensweisen meines Volkes abgelegt habe. Wer hätte mir etwas
vorschreiben sollen? Meine Mutter? Die lebte am anderen Ende
Alagaësias.« Sie schwieg, als hätte sie schon zu viel gesagt.
»Jedenfalls hatte ich«, fuhr sie fort, »eine unangenehme Begegnung
mit zwei Ochsenhirten, kurz nachdem ich die Varden verlassen hatte,
und danach habe ich dieses Kleid gestohlen.«
»Es steht dir gut.«
»Als Zauberkundiger hat man den Vorteil,
dass man niemals auf einen Schneider warten muss.«
Eragon lachte, dann fragte er. »Und
jetzt?«
»Jetzt ruhen wir uns aus. Morgen
verschwinden wir in aller Frühe aus Eastcroft und dann sehen wir
weiter.«
In der Nacht lag Eragon auf dem Boden. Er
hätte in jedem Fall darauf bestanden, dass Arya das Bett bekam,
aber diese Übereinkunft hatte nichts mit Rücksichtnahme oder
Höflichkeit zu tun, sondern war eine reine Vorsichtsmaßname. Falls
irgendjemand ins Zimmer platzte, könnte es seltsam erscheinen, eine
auf dem Boden liegende Frau vorzufinden.
Während die Stunden dahinkrochen, starrte
Eragon zu den Dachbalken hinauf und verfolgte die Risse im Holz,
unfähig, seine rasenden Gedanken zu beruhigen. Er versuchte alles,
um sich zu entspannen, aber seine Gedanken kehrten ständig zu Arya
zurück, zu seiner Überraschung, ihr so unerwartet zu begegnen, zu
ihrer Reaktion, als er ihr von der Sache mit Sloan erzählte, und
vor allem zu seinen Gefühlen für die Elfe. Er war sich nicht ganz
sicher, welcher Natur sie waren. Er sehnte sich nach Aryas Nähe,
aber seit sie ihn abgewiesen hatte, mischten sich in seine
Zuneigung zu ihr Schmerz und Wut - und auch Frustration. Obwohl er
sich weigerte zu akzeptieren, dass sein Werben aussichtslos war,
hatte er keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte.
In seiner Brust begann es zu schmerzen,
während er Aryas leisen Atemzügen lauschte. Es quälte ihn, ihr so
nahe zu sein, sie jedoch nicht berühren zu können. Er knetete den
Stoff seines Wamses und wünschte, etwas tun zu können, statt sich
in sein trauriges Schicksal ergeben zu müssen.
Bis weit in die Nacht rang er mit seinen
begehrlichen Gefühlen, bis er schließlich der Erschöpfung erlag und
in die wartende Umarmung seiner Wachträume glitt. Darin wanderte er
einige Stunden unruhig umher, bis die Sterne allmählich verblassten
und es für ihn und Arya Zeit wurde, Eastcroft zu verlassen.
Sie öffneten das Fenster und sprangen die
zwölf Fuß bis zur Erde; ein kleiner Satz für jemanden mit elfischen
Fähigkeiten. Im Fallen hielt Arya den Rock ihres Kleides gepackt,
damit er sich nicht aufbauschte. Sie landeten wenige Handbreit
voneinander entfernt und rannten zwischen den Häusern in Richtung
der Palisaden.
»Die Leute werden sich fragen, wo wir
abgeblieben sind«, überlegte Eragon im Laufen. »Vielleicht hätten
wir warten und wie normale Reisende weiterziehen sollen.«
»Es wäre riskanter, länger zu bleiben. Ich
habe für das Zimmer bezahlt. Das ist das Einzige, was die Wirtin
interessiert, nicht ob wir in aller Frühe hinausgeschlichen sind.«
Sie trennten sich kurz, um einen klapprigen Holzkarren zu umrunden,
dann fügte Arya hinzu: »Am wichtigsten ist es, in Bewegung zu
bleiben. Wenn wir länger an einem Ort verweilen, findet uns der
König.«
Als sie den Palisadenzaun erreicht hatten,
schritt Arya daran entlang, bis sie einen Pfosten entdeckte, der
etwas vorstand. Sie legte die Hände darum und zog kräftig, prüfte,
ob das Holz ihr Gewicht trug. Der Pfosten wackelte etwas, aber er
hielt.
»Du zuerst«, sagte Arya.
»Bitte, nach dir.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer deutete sie
auf ihren Aufzug. »Ein Kleid ist luftiger als eine Hose,
Eragon.«
Er wurde rot, als er verstand, worauf sie
hinauswollte. Er packte den Pfosten in Höhe seines Kopfes und
begann, an der Palisade hinaufzuklettern, wobei er sich mit Knien
und Füßen abstützte. Oben angekommen, balancierte er auf den
angespitzten Pflöcken.
»Spring!«, flüsterte Arya.
»Nicht ohne dich.«
»Sei nicht so...«
»Ein Wachmann!«, rief Eragon leise und
deutete hinter sie. Zwischen zwei Häusern war in der Dunkelheit
eine Laterne aufgetaucht. Während das Licht näher kam, schälten
sich die Umrisse eines Mannes aus der Finsternis. Er hatte sein
Schwert gezückt.
Lautlos wie ein Gespenst griff Arya nach dem
Pfosten und zog sich Hand für Hand nach oben. Sie schien beinahe
hinaufzugleiten, wie durch Magie. Als sie nahe genug war, packte
Eragon ihren rechten Unterarm und zog sie das letzte Stück zu sich
hinauf. Wie zwei merkwürdige Vögel hockten sie reglos auf den
Palisaden, während unter ihnen der Wachmann vorbeischritt. Er
schwenkte die Laterne in beide Richtungen, hielt nach
Eindringlingen Ausschau.
Schau jetzt nicht
hoch, flehte Eragon.
Im nächsten Moment schob der Wachmann das
Schwert in die Scheide und setzte summend seine Runde fort.
Ohne ein Wort sprangen Eragon und Arya auf
der anderen Seite der Palisaden hinunter. Die Rüstung in seinem
Rucksack klapperte, als er auf der grasbewachsenen Böschung landete
und sich abrollte, um die Wucht des Aufpralls abzufangen. Dann
sprang er auf und eilte geduckt durch die graue Landschaft davon,
dicht gefolgt von Arya. Sie hielten sich in Senken und
ausgetrockneten Wasserläufen, während sie an den Höfen
vorbeirannten, die rings um das Dorf verstreut waren. Ein paarmal
kamen aufgeschreckte Hunde herausgestürmt, die ihr Revier
verteidigen wollten. Eragon versuchte, sie mit seinem Geist zu
beruhigen, aber wie er bald merkte, war es am sinnvollsten, einfach
weiterzurennen. So glaubten die Kläffer, den ungebetenen Besuch mit
gefletschten Zähnen und Gebell verscheucht zu haben, und kehrten
schwanzwedelnd zu den Scheunen und Häusern zurück, von wo sie
weiter über ihr kleines Reich wachten. Ihre Genügsamkeit amüsierte
Eragon.
Als fünf Meilen hinter Eastcroft klar wurde,
dass ihnen tatsächlich niemand folgte, blieben Eragon und Arya
neben einem verkohlten Baumstumpf stehen. Kniend schaufelte Arya
mehrere Handvoll Erde aus dem Boden. »Adurna rïsa«, sagte sie. Mit einem leisen
Plätschern stieg aus dem umgebenden Erdreich Wasser auf und füllte
das von Arya gegrabene Loch. Als es randvoll war, sagte die
Elfe: »Letta.« Das Sprudeln
hörte auf.
Sie beschwor die Traumsicht herauf und auf
der Wasseroberfläche erschien Nasuadas Antlitz. Arya begrüßte
sie.
»Lehnsherrin«, sagte Eragon und verneigte
sich.
»Drachenreiter«, entgegnete die Anführerin
der Varden. Sie wirkte erschöpft, hatte eingefallene Wangen, als
wäre sie lange krank gewesen. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, und
als Nasuada die widerspenstige Strähne zurückstrich, bemerkte
Eragon den dicken Verband an ihrem Unterarm. »Du bist in
Sicherheit, Gokukara sei Dank. Wir haben uns große Sorgen
gemacht.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich beunruhigt
habe, aber ich hatte gute Gründe für mein Verhalten.«
»Die erklärst du mir am besten, wenn du
zurück bist.«
»Wie du wünschst«, sagte er. »Woher stammen
deine Verletzungen? Wurdest du angegriffen? Warum hast du dich
nicht von einem Mitglied der Du Vrangr Gata heilen lassen?«
»Ich habe den Magiern befohlen, mich in Ruhe
zu lassen. Auch darüber reden
wir, wenn du zurück bist.« Eragon nickte verwirrt und schluckte
seine vielen Fragen hinunter. Zu Arya sagte Nasuada: »Ich bin
beeindruckt. Du hast ihn gefunden. Ich war mir nicht sicher, ob es
dir gelingen würde.«
»Das Glück war mir hold.«
»Mag sein. Aber ich vermute, dass deine
Fähigkeiten dabei eine ebenso große Rolle gespielt haben. Wann seid
ihr zurück?«
»In zwei, drei Tagen, falls nichts
dazwischenkommt.«
»Gut. Ich erwarte euch. Ich wünsche, dass
ihr ab jetzt täglich vor der Mittagsstunde und vor Sonnenuntergang
Verbindung mit mir aufnehmt. Sollte ich nichts von euch hören, gehe
ich davon aus, dass ihr in Gefangenschaft geraten seid. Dann
schicke ich Saphira und einen Rettungstrupp los.«
»Wir werden nicht immer einen Ort finden,
der abgelegen genug ist, um ungestört Magie wirken zu
können.«
»Dann findet eine Lösung. Ich muss wissen,
wo ihr beiden steckt und dass alles in Ordnung ist.«
Arya überlegte einen Moment. »Ich werde tun,
was du verlangst, aber nur, solange es Eragon nicht in Gefahr
bringt.«
»Abgemacht.«
Eragon nutzte die anschließende
Gesprächspause und fragte: »Nasuada, ist Saphira in der Nähe? Ich
würde gerne mit ihr sprechen... Wir haben seit dem Helgrind nicht
mehr miteinander geredet.«
»Sie ist vor einer Stunde zu einem
Erkundungsflug aufgebrochen. Könnt ihr den Zauber aufrechthalten,
während ich in Erfahrung bringe, ob sie inzwischen zurückgekehrt
ist?«
»Ja«, sagte Arya.
Nasuada verschwand aus ihrem Blickfeld und
zurück blieb das Bild des Tisches und der Stühle im roten
Kommandozelt. Eragon betrachtete es eine Weile, dann wurde er
unruhig und ließ die Augen zu Aryas Nacken wandern. Ihr volles
schwarzes Haar fiel auf eine Seite und offenbarte über dem Kragen
ihres Kleides einen zarten Hautstreifen. Der Anblick bannte Eragon
beinahe eine volle Minute, dann regte er sich und lehnte sich gegen
den verkohlten Baumstumpf.
Plötzlich ertönte das Geräusch von
berstendem Holz und auf der Wasseroberfläche erschienen zahlreiche
schimmernde blaue Schuppen, als Saphira sich in den Pavillon
zwängte. Eragon konnte nicht erkennen, welchen Teil von ihr er sah.
Die Schuppen glitten über das Wasser und er erhaschte einen Blick
auf die Unterseite eines Schenkels, dann auf eine Zacke an ihrem
Schwanz und auf die herabhängende Flügelhaut einer angelegten
Schwinge. Schließlich rückte eine glitzernde Zahnspitze ins Bild,
während Saphira sich umwandte und versuchte, eine Position
einzunehmen, von der aus sie halbwegs bequem in den Spiegel schauen
konnte. Aus den besorgniserregenden Geräuschen hinter Saphira
schloss Eragon, dass sie bei ihren Bemühungen den Großteil des
Mobiliars zertrümmerte. Schließlich hatte sie es sich bequem
gemacht, schob den Kopf dicht vor den Spiegel - sodass ein großes
saphirfarbenes Auge die gesamte Wasseroberfläche ausfüllte - und
sah Eragon an.
Eine Weile betrachteten sie einander
schweigend, keiner der beiden rührte sich. Es überraschte Eragon,
wie erleichtert er war, sie zu sehen. Seit ihrer Trennung hatte er
sich nicht mehr richtig sicher gefühlt.
»Ich vermisse dich«, flüsterte er
schließlich.
Sie blinzelte einmal. »Nasuada, bist du noch
da?«
Die gedämpfte Antwort kam von irgendwo
seitlich von Saphira. »Ja, gerade so.«
»Würdest du mir bitte übermitteln, was
Saphira sagt?«
»Das würde ich ja gerne, aber im Moment bin
ich zwischen einem Flügel und einem Holzpfosten eingeklemmt und
komme hier nicht raus. Du wirst Schwierigkeiten haben, mich zu
verstehen. Wenn du mir das nachsehen kannst, werde ich es
versuchen.«
»Ja, bitte.«
Nasuada schwieg kurz, dann sagte sie in
einem Tonfall, der Saphiras so ähnlich war, dass Eragon beinahe
aufgelacht hätte: »Bist du wohlauf?«
»Ich bin gesund wie ein Ochse. Und wie
geht’s dir?«
»Mich selbst mit einem Rind zu vergleichen,
wäre genauso lächerlich wie beleidigend, aber mir geht es blendend.
Ich bin froh, dass Arya bei dir ist. Es ist gut, dass du jemanden
an deiner Seite hast, der dir den Rücken freihält.«
»Finde ich auch. Hilfe kann man immer
gebrauchen.« Eragon war dankbar, dass er mit Saphira reden konnte,
auch wenn es so ein wenig umständlich war. Allerdings schien ihm
das gesprochene Wort nur ein armseliger Ersatz für den freien
Austausch von Gedanken und Gefühlen, den sie normalerweise
untereinander genossen. Außerdem wollte er in Aryas und Nasuadas
Gegenwart nur ungern persönliche Dinge ansprechen, zum Beispiel ob
Saphira ihm verzieh, dass er sie am Helgrind fortgeschickt hatte.
Ihr ging es offenbar genauso, denn auch sie sparte das Thema aus.
Sie plauderten eine Weile über dies und das und verabschiedeten
sich dann. Bevor er von dem Wasserloch zurücktrat, formte er mit
den Lippen lautlos die Worte: Es tut mir
leid.
Der Abstand zwischen den kleinen Schuppen,
die Saphiras Auge umgaben, vergrößerte sich ein wenig, als sich das
darunterliegende Fleisch entspannte. Dann zwinkerte sie ihm zu, und
Eragon wusste, dass sie ihm nicht böse war.
Nachdem er und Arya sich auch von Nasuada
verabschiedet hatten, löste die Elfe den Zauber und erhob sich. Mit
dem Handrücken klopfte sie sich den Staub vom Kleid.
Währenddessen wurde Eragon ganz unruhig. Am
liebsten wäre er direkt zu Saphira gerannt und hätte sich am
Lagerfeuer an sie gekuschelt.
»Auf geht’s«, sagte er und lief bereits
los.