GROSSE UND KLEINE FLUCHTEN

Eragons Füße trommelten auf den Boden. Der stampfende Rhythmus seiner Schritte rührte von den Fersen her, fuhr die Beine hinauf, durchdrang die Hüften und stieg das Rückgrat hoch, bis er seinen Schädel erreichte, wo der stete Stoß seine Zähne klappern ließ und die Kopfschmerzen verschlimmerte, die mit jeder zurückgelegten Meile stärker zu werden schienen. Anfangs hatte der monotone Takt des Laufens ihn genervt, aber bald schon hatte er ihn in einen tranceartigen Zustand versetzt, in dem er nicht mehr nachdachte, sondern nur noch rannte.
Während Eragons Stiefel auf den Boden hämmerten, hörte er die spröden Grashalme wie Zweige brechen und sah kleine Staubwolken aus der rissigen Erde aufsteigen. Vermutlich hatte es in diesem Teil Alagaësias seit mindestens einem Monat nicht mehr geregnet. Die trockene Luft entzog seinem Atem die Feuchtigkeit, sodass seine Kehle schon ganz wund war. So viel er auch trank, er konnte nicht wettmachen, was Wind und Sonne ihm raubten.
Daher die Kopfschmerzen.
Der Helgrind lag weit hinter ihm. Allerdings kam er langsamer voran als erhofft. Hunderte von Galbatorix’ Patrouillen - bestehend aus Soldaten und Magiern - zogen über das Land und er musste sich oft vor ihnen verstecken. Er hegte keinen Zweifel, dass sie nach ihm suchten. Am Vorabend hatte er dicht über dem westlichen Horizont sogar Dorn erblickt. Er hatte sofort einen Schutzwall um seinen Geist errichtet, sich in einen Graben geworfen und dort eine halbe Stunde ausgeharrt, bis der riesige rote Drache wieder hinter dem Rand der Welt verschwunden war.
Eragon hatte beschlossen, möglichst auf bestehenden Straßen und Pfaden zu reisen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten ihn an die Grenzen seiner körperlichen und emotionalen Belastbarkeit gebracht. Er zog es vor, seinem Körper eine Verschnaufpause zu gönnen, statt sich mühselig durchs Gestrüpp zu schlagen, steile Hügel zu erklimmen und durch schlammige Flüsse zu waten. Er würde sich schon früh genug wieder verausgaben müssen, aber noch nicht jetzt. Denn solange er auf den Straßen war, wagte er nicht, so schnell zu rennen, wie er es eigentlich gekonnt hätte. Genau genommen wäre es klüger gewesen, überhaupt nicht zu rennen. In der Gegend gab es einige Dörfer und abseitsgelegene Höfe. Ein einzelner Mann, der die Straße entlanghetzte, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihm her, würde bestimmt Neugier und Argwohn wecken. Ein erschrockener Bauer konnte gar auf die Idee kommen, den Vorfall zu melden. Mit fatalen Folgen für Eragon, dessen bester Schutz die Anonymität war.
Er rannte nur deshalb, weil ihm seit drei Meilen außer einer Schlange kein einziges Lebewesen begegnet war.
Zu den Varden zurückzukehren, war Eragons dringlichstes Anliegen, und es wurmte ihn, wie ein gewöhnlicher Vagabund die Straße entlangzutrotten. Trotzdem genoss er die Gelegenheit, endlich einmal für sich zu sein. Er war nicht mehr allein gewesen - richtig allein -, seit er im Buckel Saphiras Ei entdeckt hatte. Immer hatten ihre Gedanken seine berührt oder Brom, Murtagh oder jemand anderes war an seiner Seite gewesen. Neben der Bürde fortwährender Gesellschaft hatte Eragon während all der Monate seit seinem Abschied aus dem Palancar-Tal das anstrengende Training auf sich genommen, nur unterbrochen von Reisen oder blutigen Schlachten. Noch nie zuvor hatte er sich über einen so langen Zeitraum derart intensiv auf etwas konzentriert oder sich mit so großen Sorgen und Ängsten herumschlagen müssen.
Deshalb genoss er nun die Einsamkeit und die damit einhergehende Ruhe. Das Fehlen von Stimmen, einschließlich seiner eigenen, war für ihn wie ein süßes Schlaflied, das für eine Weile seine Angst vor der Zukunft fortspülte. Er verspürte kein Bedürfnis, mit der Traumsicht nach Saphira zu sehen. Auch wenn sie zu weit weg war, um sie mit seinem Geist zu berühren, durch das Band zwischen ihnen hätte er gewusst, wenn es ihr schlecht ginge. Mit Arya oder Nasuada wollte er ebenso wenig in Verbindung treten; sie hätten ihm ohnehin nur gezürnt. Es war viel angenehmer, dem Gesang der Vögel zu lauschen, dem Seufzen des Windes im Gras und in den Bäumen.
 
Das Geräusch bimmelnder Geschirre, von Hufgetrappel und lauten Männerstimmen riss Eragon aus seinen Tagträumen. Beunruhigt blieb er stehen und schaute sich um, versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung sich die Reiter näherten. Aus einer nahen Bergschlucht kamen zwei schnatternde Dohlen herausgeschossen.
Das einzige Versteck, das sich Eragon in der Nähe bot, war eine kleine Gruppe von Wacholderbäumen. Er rannte darauf zu und hechtete unter die herabhängenden Äste. Im nächsten Moment kamen sechs Soldaten aus der Schlucht geritten und bogen keine zehn Schritte von ihm entfernt auf die staubige Straße ein. Normalerweise hätte Eragon ihre Gegenwart längst gespürt, aber seit Dorn am Horizont aufgetaucht war, schirmte er seinen Geist vor seiner Umgebung ab.
Die Soldaten zügelten die Pferde und blieben mitten auf der Straße stehen. »Ich sag euch, ich hab was gesehen!«, rief einer der Männer. Er war mittelgroß, hatte rote Wangen und einen blonden Bart.
Sein Herz hämmerte, Eragon zwang sich, langsam und ruhig zu atmen. Er prüfte den Sitz des Stirnbands, das er trug, um sicher zu sein, dass es seine schräg stehenden Augenbrauen und die spitzen Ohren verdeckte. Ich wünschte, ich würde meine Rüstung tragen, dachte er. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er sich aus trockenen Ästen und einer Plane, die er einem Kesselflicker abgekauft hatte, einen Rucksack gebastelt und darin seine Rüstung verstaut. Nun wagte er nicht, sie hervorzuholen und anzulegen, aus Angst, die Soldaten könnten es hören.
Der Soldat mit dem blonden Bart stieg von seinem kastanienbraunen Pferd und lief am Straßenrand entlang. Er suchte den Boden ab und blickte zu den Wacholderbäumen hinüber. Wie alle Angehörigen von Galbatorix’ Streitmacht trug er ein rotes Wams, auf dem eine lodernde, mit Goldfäden umrissene Flamme prangte. Die Stickarbeit glitzerte in der Sonne. Seine Rüstung war schlicht - ein Helm, ein ovaler Schild und ein lederner Brustpanzer -, was darauf hindeutete, dass er wenig mehr war als ein einfacher Fußsoldat. Seine Bewaffnung: in der rechten Hand eine Lanze, links an der Hüfte hängend ein Langschwert.
Während der Soldat mit klirrenden Sporen auf sein Versteck zuschritt, begann Eragon, einen komplizierten Zauberspruch in der alten Sprache zu murmeln. Die Worte kamen ihm mühelos über die Lippen, bis er zu seiner Bestürzung eine spezielle Anhäufung von Vokalen falsch aussprach und von Neuem beginnen musste.
Der Soldat kam einen weiteren Schritt auf ihn zu.
Und noch einen.
Gerade als der Mann vor ihm stehen blieb, beendete Eragon den Zauber und spürte, wie ihm die Kraft entströmte, als die Wirkung der Magie einsetzte. Allerdings den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Soldat hatte ihn bereits entdeckt, denn er rief: »Aha!«, und schob die Äste auseinander.
Eragon rührte sich nicht.
Der Soldat schaute ihn direkt an und runzelte die Stirn. »Was zum...«, murmelte er. Er stieß die Lanze ins Gebüsch und verfehlte nur um Haaresbreite Eragons Gesicht. Der bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, als seine angespannten Muskeln zu zittern begannen. »Ach, was soll’s«, sagte der Soldat und ließ die Äste los, die zurückschwangen und Eragon wieder verbargen.
»Was war denn da?«, rief einer der anderen Männer.
»Nichts«, brummte der Soldat und kehrte zu seinen Gefährten zurück. Er nahm den Helm ab und wischte sich über die Stirn. »Meine Augen haben mir einen Streich gespielt.«
»Was erwartet dieser Bastard Braethan von uns? Seit zwei Tagen haben wir kaum eine Mütze Schlaf bekommen.«
»Tja, der König muss ganz schön verzweifelt sein, uns dermaßen auf Trab zu halten. Ehrlich gesagt, ich würde denjenigen, den er sucht, lieber nicht finden. Ich bin ja kein Feigling, aber wenn jemand sogar Galbatorix in Unruhe versetzt, sollten Leute wie wir ihm lieber aus dem Weg gehen. Sollen doch Murtagh und sein Ungeheuer von einem Drachen den geheimnisvollen Flüchtling fangen, was?«
»Es sei denn, wir suchen nach Murtagh«, warf ein dritter Mann ein. »Ihr habt doch ebenso wie ich gehört, was Morzans Brut gesagt hat.«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Dann schwang sich der Soldat mit dem blonden Bart wieder auf sein Pferd, schlang die Zügel um die linke Hand und sagte: »Halt die Klappe, Derwood. Du quatschst zu viel.«
Damit gaben die Soldaten ihren Pferden die Sporen und ritten in nördliche Richtung davon.
Als das Hufgetrappel verklungen war, löste Eragon den Zauber, rieb sich mit den Fäusten die Augen und ließ die Hände dann auf die Knie sinken. Er musste leise lachen und schüttelte den Kopf. Es amüsierte ihn, in welch haarsträubender Lage er sich befand: er, ein einfacher Bauernjunge aus dem Palancar-Tal. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mir so etwas widerfährt, dachte er.
Der Zauber, den er gebaucht hatte, bestand aus zwei Teilen. Der erste lenkte Lichtstrahlen um den Körper herum und ließ ihn so unsichtbar erscheinen. Der zweite sollte verhindern, dass andere Zauberkundige den Gebrauch von Magie bemerkten. Die größten Nachteile des Zaubers waren, dass er die Fußspuren nicht verbarg - deshalb musste man stocksteif stehen bleiben - und der eigene Schatten oft nicht völlig verschwand.
Als er sich unter dem Wacholder vorgearbeitet hatte, reckte Eragon die Arme über den Kopf, dann blickte er zu der Schlucht, aus der die Soldaten gekommen waren. Eine einzige Frage beschäftigte ihn, als er seinen Weg fortsetzte.
Was hatte Murtagh gesagt?
 
»Ahh!«
Die schleierhaften Trugbilder seiner Wachträume verschwanden, als Eragon mit den Händen in die Luft hieb. Er rollte sich weg von der Stelle, wo er gelegen hatte, krabbelte ein Stück zurück und sprang mit erhobenen Armen auf, um einen heransausenden Schlag abzuwehren.
Nächtliche Dunkelheit umfing ihn. Über ihm setzten die Gestirne ihren endlos kreisenden Himmelstanz fort. Am Boden regte sich kein einziges Geschöpf und er hörte nichts außer dem sanften Rauschen des Windes im Gras.
Eragon schickte seinen Geist aus, denn er war überzeugt, dass ihm ein Angriff drohte. Doch selbst im Umkreis von tausend Fuß konnte er niemanden entdecken.
Schließlich nahm er die Arme herunter. Sein Brustkorb hob und senkte sich, seine Haut brannte und er stank nach Schweiß. In seinem Kopf tobte ein Sturm: ein Wirbel aufblitzender Klingen und abgeschlagener Gliedmaßen. Einen Moment lang glaubte er, er wäre in Farthen Dûr und würde gegen Urgals kämpfen, dann wähnte er sich auf den Brennenden Steppen und kreuzte die Klingen mit Männern wie ihm. Beides erschien so real, dass er glaubte, von einem mächtigen Zauber durch Raum und Zeit transportiert worden zu sein. Er sah die von ihm getöteten Urgals und Menschen, die so lebensecht wirkten, dass er sich fragte, ob sie gleich zu ihm sprechen würden. Und obwohl er nicht mehr die Narben seiner Wunden trug, erinnerte sein Körper sich an die vielen erlittenen Verletzungen. Schaudernd spürte er wieder, wie ihm die Schwerter und Pfeile ins Fleisch fuhren.
Mit einem wilden Aufheulen sank Eragon auf die Knie, schlang die Arme um den Leib, schwankte vor und zurück. Alles ist gut... Alles ist gut. Er drückte die Stirn auf den Boden, rollte sich fest zusammen. Sein Atem strömte ihm heiß gegen den Bauch.
»Was ist nur los mit mir?«
In den Geschichten, die Brom in Carvahall erzählt hatte, waren die Helden der Vergangenheit nie von solchen Visionen heimgesucht worden. Keiner der ihm bekannten Varden-Krieger hatte je durchblicken lassen, dass das Blutvergießen ihm zu schaffen machte. Und obwohl Roran zugab, dass ihm das Töten missfiel, schreckte er nachts nicht schreiend aus dem Schlaf.
Ich bin schwach, dachte Eragon. Ein Mann sollte keine solchen Gedanken haben. Ein Drachenreiter sollte keine solchen Gedanken haben. Garrow oder Brom wäre es gut gegangen, das weiß ich. Sie taten, was sie tun mussten, und damit hatte es sich. Sie haben nicht rumgejammert und ewig nachgegrübelt und mit den Zähnen geknirscht... Ich bin schwach.
Er sprang auf und lief im Kreis um seine Schlafstatt im Gras, um sich zu beruhigen. Als ihm nach einer halben Stunde die Anspannung noch immer die Brust zuschnürte und seine Haut kribbelte, als würden darauf Tausende Ameisen herumkrabbeln, packte Eragon kurzerhand seine Sachen und rannte los. Ihm war gleich, was ihn in der unbekannten Dunkelheit erwartete oder wer seinen überstürzten Aufbruch bemerken mochte.
Er wollte nur seinen Albträumen entfliehen. Sein Geist hatte sich gegen ihn gewandt und er konnte sich nicht darauf verlassen, dass sein Verstand die aufwallende Panik vertreiben würde. Seine einzige Hoffnung lag darin, der animalischen Weisheit seines Fleisches zu vertrauen, und es forderte ihn auf, sich zu bewegen. Wenn er schnell und lange genug rannte, konnte er sich vielleicht wieder im Hier und Jetzt verankern. Vielleicht würden die kühle Nachtluft auf seiner Haut, das Geräusch seiner Schritte, die Nässe seines Schweißes und die Myriaden anderer Sinneseindrücke ihn durch ihre Übermacht dazu zwingen, zu vergessen.
Vielleicht.
Ein Schwarm Stare schoss über den Nachmittagshimmel wie Fische durch den Ozean.
Eragon blickte ihnen nach. Im Palancar-Tal, wohin die Stare im Frühjahr zurückkehrten, bildeten sie oft so große Gruppen, dass sie den Tag zur Nacht machten. Dieser Schwarm hier war nicht so riesig. Aber er erinnerte ihn an die Abende, als er mit Roran und Garrow auf der Veranda Pfefferminztee getrunken und dabei die umhersausende schwarze Wolke beobachtet hatte.
Gedankenverloren hielt er inne und setzte sich auf einen Fels, um sich die Stiefel neu zu schnüren.
Das Wetter war umgeschlagen: Es war kühler geworden und der graue Schmierfleck im Westen deutete auf einen aufziehenden Sturm hin. Die Vegetation war üppig, mit Moos und Schilf und grünen Wiesen. Einige Meilen entfernt erhoben sich fünf Hügel aus dem ansonsten flachen Land. Den mittleren krönte ein dichter Eichenhain. Verschwommen erkannte Eragon zwischen den Bäumen die bröckelnden Mauern eines lange verlassenen Gebäudes, das irgendein Volk vor Urzeiten erbaut hatte.
Seine Neugier war geweckt, und so beschloss Eragon, zwischen den Ruinen ein bisschen Abwechslung in seine sonst fleischlose Kost zu bringen. Bestimmt gab es dort viele Tiere, und eine kleine Jagd bot einen Vorwand, sich ein bisschen umzuschauen, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Nach einer Stunde erreichte Eragon den Fuß des ersten Hügels und traf dort auf die Überreste einer uralten, mit kleinen Steinquadern kunstvoll gepflasterten Straße. Er folgte ihr hinauf zu den Ruinen und wunderte sich dabei über ihre ungewöhnliche Bauweise. Bei den Menschen, Elfen oder Zwergen hatte er so etwas noch nie gesehen.
Während er den mittleren Hügel erklomm, fand Eragon im Schatten der Bäume ein wenig Abkühlung. Nahe dem Gipfel wurde es flacher und der Eichenhain öffnete sich zu einer weiten Lichtung. Auf ihr stand ein Turm ohne Spitze. Der untere Teil war breit und wie ein Baumstamm geriffelt. Danach verjüngte er sich, erhob sich mehr als dreißig Fuß in den Himmel und endete in einer scharf gezackten Linie. Die obere Turmhälfte lag auf dem Boden, in unzählige Bruchstücke zerschmettert.
Erregung packte Eragon. Vermutlich hatte er hier einen elfischen Außenposten entdeckt, der lange vor dem Ende der Drachenreiter erbaut worden war. Kein anderes Volk besaß das Geschick oder den Sinn für solche Bauwerke.
Dann entdeckte er einen Gemüsegarten auf der anderen Seite der Lichtung.
Ein Mann saß gebückt zwischen den Pflanzen und jätete Unkraut in einem Zuckererbsenbeet. Sein Gesicht lag im Schatten. Sein Bart war so lang, dass die Haare wie ein Haufen ungesponnene Wolle auf seinem Schoß lagen.
»Nun, hilfst du mir beim Jäten?«, fragte der Mann, ohne aufzuschauen. »Wenn ja, bringt dir das eine Mahlzeit ein.«
Eragon zögerte, wusste nicht, was er tun sollte. Dann dachte er: Warum sollte ich mich vor einem alten Einsiedler fürchten?, und ging zu ihm hinüber. »Ich bin Bergan... Bergan, Sohn von Garrow.«
Der Alte brummte. »Tenga, Sohn von Ingvar.«
Eragon stellte den Rucksack ab, in dem die Rüstung klapperte. Die nächste Stunde arbeitete er schweigend an Tengas Seite. Er wusste, er sollte nicht so lange bleiben, aber es machte ihm Spaß. Die Arbeit hielt ihn vom Grübeln ab. Während er Unkraut jätete, schickte er seinen Geist aus und berührte die vielen Lebewesen auf der Lichtung. Er genoss das Gefühl der Verbundenheit mit ihnen.
Nachdem sie auch die letzten Reste Gras, Portulak und Löwenzahn zwischen den Erbsen herausgerissen hatten, folgte Eragon Tenga zu einer schmalen Tür im Turm. Dahinter lagen eine geräumige Küche und ein Esszimmer. In der Mitte des Raumes führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Überall lagen Bücher, Schriftrollen und stapelweise Pergament, sogar auf dem Fußboden.
Tenga zeigte auf den kleinen Holzhaufen in der Feuerstelle. Knisternd gingen die Äste in Flammen auf. Eragon spannte sich an, bereit für einen körperlichen und geistigen Zweikampf mit Tenga.
Der Alte schien seine Reaktion gar nicht zu bemerken. Er wuselte geschäftig in der Küche herum, holte für ihr Mittagessen Becher, Geschirr und Messer heraus und stellte Reste seiner letzten Mahlzeit auf den Tisch. Währenddessen murmelte er leise in seinen wallenden Rauschebart.
Alle Sinne geschärft, setzte Eragon sich auf eine freie Stuhlecke. Er hat nicht die alte Sprache benutzt, dachte er. Und selbst wenn er den Zauberspruch im Geiste gesagt hat, hat er den Tod oder Schlimmeres riskiert, nur um ein Feuer anzuzünden! Denn wie Oromis ihn gelehrt hatte, waren Worte das Instrument, um die Freisetzung eines Zaubers zu kontrollieren. Nur so ließ sich verhindern, dass die Wirkung des Zaubers durch ein Abschweifen der Gedanken oder andere Ablenkungen verzerrt oder verfälscht wurde.
Eragon blickte sich um, suchte nach Hinweisen auf seinen Gastgeber. Er bemerkte eine offene Schriftrolle, die mit Textspalten in der alten Sprache bedeckt war, und erkannte sie als ein Kompendium wahrer Namen. Es ähnelte dem, das er in Ellesméra studiert hatte. Magier waren ganz versessen auf solche Schriften und Bücher und gaben fast alles dafür, sie zu besitzen. Sie dienten dazu, neue Zauberworte zu erlernen und auch eigene Sprüche darin zu notieren. Aber nur die Allerwenigsten wurden eines solchen Werkes habhaft, da sie extrem selten waren. Wer eines hatte, trennte sich nicht freiwillig davon.
Daher war es höchst ungewöhnlich, dass Tenga ein solches Kompendium besaß. Aber zu seinem Erstaunen entdeckte Eragon im Raum noch sechs weitere dieser Werke, unter zahllosen Schriften aus den Bereichen Geschichte, Mathematik, Astronomie und Botanik. Tenga stellte ihm einen gefüllten Bierkrug und einen Teller mit Brot, Käse und kaltem Fleisch hin.
»Danke«, sagte Eragon.
Der Alte beachtete ihn nicht weiter, setzte sich im Schneidersitz vor das Feuer und verzehrte murmelnd seine Mahlzeit.
Nachdem Eragon mit einem Stück Brot den Teller sauber gewischt und das ausgezeichnete Bier bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hatte, fragte er Tenga, der ebenfalls aufgegessen hatte: »Wurde der Turm von den Elfen erbaut?«
Der Alte sah ihn durchdringend an, als würde die Frage ihn an Eragons Intelligenz zweifeln lassen. »Wer denn sonst? Natürlich haben die raffinierten Elfen Edur Ithindra gebaut.«
»Und was tust du hier? Bist du ganz allein oder -«
»Ich suche die Antwort!«, rief Tenga aus. »Den Schlüssel zu einer verschlossenen Tür, das Geheimnis der Bäume und Pflanzen. Feuer, Hitze, Blitze, Licht... Die meisten kennen nicht einmal die Frage und verbringen ihr Leben als Unwissende. Andere kennen sie, fürchten sich aber vor der Antwort. Pah! Seit Jahrtausenden leben wir wie Wilde! Wie Wilde! Dem werde ich ein Ende machen. Ich werde das Zeitalter des Lichts einläuten und alle werden mich dafür preisen.«
»Sag bitte, wonach genau suchst du?«
Tenga runzelte die Stirn. »Du kennst die Frage nicht? Ich dachte, das würdest du. Ich habe mich wohl getäuscht. Trotzdem, ich merke, dass du meine Suche verstehst. Du selbst suchst nach einer anderen Antwort, aber auch du bist ein Pilger. In unseren Herzen brennt das gleiche Feuer. Nur ein Pilger begreift, was wir opfern müssen, um die Antwort zu finden.«
»Die Antwort worauf?«
»Auf die von uns gewählte Frage.«
Er ist verrückt, dachte Eragon. Er hielt nach etwas Ausschau, mit dem er Tenga ablenken konnte, als sein Blick auf eine Reihe kleiner Figuren von Waldtieren fiel, die auf einem Brett unter dem tropfenförmigen Fenster standen. »Die sind wunderschön«, sagte er und deutete darauf. »Wer hat sie erschaffen?«
»Das war sie... bevor sie ging. Sie hat ständig irgendwelche Dinge erschaffen.« Tenga sprang auf und legte die linke Zeigefingerspitze auf die erste Figur. »Hier, das Eichhörnchen mit dem wedelnden Schwanz... so klug und geschwind und gewitzt.« Sein Finger wanderte zum nächsten Tier. »Hier das Wildschwein mit den tödlichen Reißzähnen... Hier der Rabe mit...«
Tenga beachtete ihn nicht, als Eragon zurückwich, den Türriegel hob und aus dem Turm schlüpfte. Mit geschultertem Rucksack trottete er durch den Eichenhain hangabwärts und ließ die fünf Hügel und den wahnsinnigen Zauberer hinter sich.
 
In den Abendstunden und auch am nächsten Tag wurden die Menschen auf der Straße immer zahlreicher, bis es Eragon vorkam, als würden an jeder Biegung neue Leute dazukommen. Die meisten davon Flüchtlinge, obwohl auch Soldaten und reisende Händler darunter waren. Er vermied jeden Kontakt und hielt die meiste Zeit den Kopf gesenkt.
Allerdings hatte das zur Folge, dass er die Nacht in Eastcroft verbringen musste, einem Dorf zwanzig Meilen nördlich von Melian. Eigentlich hatte er die Straße lange vor seiner Ankunft in Eastcroft verlassen und sein Nachtlager in einer Senke oder Höhle aufschlagen wollen. Aber da er die Gegend nicht wirklich kannte, schätzte er die Entfernung falsch ein und näherte sich plötzlich bereits dem Dorf in Gesellschaft von drei Waffenknechten. Nun noch zu verschwinden, wo die sicheren Mauern Eastcrofts und ein gemütliches Bett kaum eine Wegstunde entfernt lagen, hätte selbst den größten Dummkopf überlegen lassen, warum er - Eragon - das Dorf meiden wollte. Deshalb fügte er sich in sein Schicksal und ging im Geiste die Geschichte durch, die er sich zurechtgelegt hatte, um seine Reise zu erklären.
Der riesig erscheinende Sonnenball stand zwei Fingerbreit über dem Horizont, als Eragon das erste Mal Eastcroft erblickte, ein mittelgroßes, von einer hohen Palisadenmauer umschlossenes Dorf. Es war fast dunkel, als er es schließlich erreichte und durch das Tor schritt. Er hörte, wie der Wachmann die Waffenknechte fragte, ob hinter ihnen noch jemand auf der Straße unterwegs gewesen wäre.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Oh, das reicht mir als Auskunft«, sagte der Wachmann. »Falls noch irgendwelche Nachzügler eintreffen, müssen sie bis morgen warten, um reinzukommen.« Einem Mann, der auf der anderen Seite des Tores stand, rief er zu: »Schließen wir es!« Zusammen schoben sie das fünfzehn Fuß hohe, eisenbeschlagene Tor zu und verriegelten es mit vier dicken Eichenbalken.
Als würden sie eine Belagerung erwarten, dachte Eragon, dann musste er über sich selbst lächeln. Nun, wer rechnet heutzutage nicht mit Schwierigkeiten? Noch vor einigen Monaten hätte es ihm Sorgen bereitet, in Eastcroft eingeschlossen zu sein. Heute aber war er überzeugt, die Stadtbefestigung mit bloßen Händen überwinden zu können. Niemand würde seine Flucht ins Dunkel der Nacht bemerken, wenn er sich mithilfe von Magie verbarg. Aber er zog es vor zu bleiben, denn er war todmüde, und einen Zauber zu wirken, hätte die Aufmerksamkeit anderer Magier wecken können, die sich möglicherweise in der Nähe aufhielten.
Nachdem er erst wenige Schritte auf der staubigen Straße in Richtung Dorfplatz gemacht hatte, blaffte ihn ein Wachmann an und streckte ihm eine Laterne ins Gesicht. »Bleib stehen! Du warst noch nie in Eastcroft, oder?«
»Das ist mein erster Besuch.«
Der stämmige Wachmann legte den Kopf schräg. »Hast du hier Familie oder Freunde, die du besuchst?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Und was führt dich nach Eastcroft?«
»Nichts. Ich bin auf der Durchreise nach Süden, um die Familie meiner Schwester abzuholen und nach Dras-Leona zurückzubringen.« Der Wachmann nahm die Erklärung teilnahmslos hin. Vielleicht glaubt er mir nicht, überlegte Eragon. Oder er hat schon so viele Geschichten wie meine gehört, dass sie ihn nicht mehr interessieren.
»Dann geh zum Haus der Reisenden, gleich am Hauptbrunnen. Dort findest du Kost und Logis. Aber sei gewarnt, wir in Eastcroft kennen keine Gnade mit Mördern, Dieben oder Bettlern. Wir haben kräftige Prügelstöcke und einen feinen Galgen. Hast du verstanden, Bursche?«
»Ja, Herr.«
»Dann geh jetzt. Nein, warte! Wie heißt du, Fremder?«
»Bergan.«
Daraufhin setzte der Wachmann seine abendliche Runde fort. Eragon wartete, bis das Laternenlicht hinter der nächsten Hausecke verschwunden war, bevor er zum Nachrichtenbrett hinüberging, das links von den Toren hing.
Über einem halben Dutzend Steckbriefen von gesuchten Verbrechern hingen zwei große Pergamente. Eines zeigte Eragon, das andere Roran. Beide wurden als Verräter an der Krone bezeichnet. Interessiert betrachtete Eragon die Plakate und staunte über die ausgesetzte Belohnung: Wer einen der Gesuchten fing, bekam eine ganze Grafschaft. Die Zeichnung von Roran war ziemlich treffend, sogar mit Vollbart, den er seit seiner Flucht aus Carvahall trug. Eragons Porträt hingegen zeigte ihn so, wie er vor der Blutschwur-Zeremonie ausgesehen hatte, als seine Züge noch rein menschlich gewesen waren.
Wie die Dinge sich doch verändert haben, dachte er.
Dann ging er durchs Dorf und fand das Haus der Reisenden. Der Schankraum hatte eine niedrige Decke mit teerbefleckten Balken. Gelbe Talgkerzen verströmten warmes flackerndes Licht und erfüllten die Luft mit wabernden Rauchschwaden. Sand und Stroh bedeckten den Boden und knirschten unter Eragons Stiefeln. Zu seiner Linken gab es Tische und Stühle und eine große Feuerstelle, an der ein kleiner Junge ein Schwein am Spieß drehte. Gegenüber befand sich ein langer Tresen, an dem sich Horden durstiger Männer drängelten.
Etwa sechzig Gäste füllten den Raum bis auf den letzten Platz. Das Stimmengewirr wäre für Eragon nach seiner ruhigen Wanderschaft allein schon erschreckend genug gewesen, aber wegen seines sensiblen Gehörs fühlte er sich, als würde er mitten in einem dröhnenden Wasserfall stehen. Es fiel ihm schwer, sich auf eine Stimme zu konzentrieren. Sobald er ein Wort oder gar einen ganzen Satz aufgeschnappt hatte, übertönte diesen schon der nächste Wortschwall. In einer Ecke sangen drei Spielleute eine humoristische Version von »Liebliche Aethrid o’ Dauth« und verstärkten damit den Lärm noch.
Durch die sperrfeuerartigen Gespräche bahnte Eragon sich einen Weg zum Tresen. Er wollte die Bedienung ansprechen, aber die Frau war zu beschäftigt. Es dauerte fünf Minuten, bis sie ihn bemerkte und fragte: »Womit kann ich dienen?« Haarsträhnen hingen ihr ins verschwitzte Gesicht.
»Hast du ein Zimmer für mich? Oder irgendeine Ecke, wo ich schlafen kann?«
»Keine Ahnung. Frag die Hausherrin. Sie kommt gleich runter.« Dann deutete sie in Richtung der schummrigen Treppe.
Während er wartete, lehnte Eragon sich an den Tresen und musterte die Leute. Es war eine bunte Mischung. Etwa die Hälfte stammte aus Eastcroft und veranstaltete ein nächtliches Trinkgelage. Die meisten anderen waren Männer und Frauen - oft ganze Familien - auf der Flucht in eine sicherere Gegend. Eragon erkannte sie an den abgetragenen Hemden und schmutzigen Hosen und daran, wie sie auf ihren Stühlen kauerten und jeden musterten, der ihnen nahe kam. Sie vermieden es jedoch sorgsam, zur letzten und kleinsten Gruppe der Gäste hinüberzublicken: Galbatorix’ Soldaten. Die Männer in den roten Wämsern machten mehr Lärm als alle anderen. Sie lachten und brüllten und schlugen mit ihren gepanzerten Fäusten auf die Tische, während sie Bier soffen und jede Frau angrapschten, die dumm genug war, ihnen zu nahe zu kommen.
Benehmen sie sich so, weil sie wissen, dass niemand es wagt, gegen sie aufzubegehren, und sie es genießen, ihre Macht zu demonstrieren?, fragte sich Eragon. Oder weil man sie gezwungen hat, sich Galbatorix’ Heer anzuschließen, und sie ihre Scham und ihre Angst mit ihrer Ausgelassenheit zu betäuben versuchen?
Die Spielleute sangen jetzt:
So eilte die liebliche Aethrid o’ Dauth 
zu Graf Edel und rief: »Lasst meinen Geliebten 
frei. Sonst verwandelt Euch die Hexe 
in einen dummen Vogel Strauß!« 
Doch Graf Edel, ja, der lachte nur 
und ging zurück ins schmucke Haus.
Die Menge teilte sich und gewährte Eragon einen Blick auf einen Tisch an der Wand. Eine einzelne Frau saß dort, ihr Gesicht verborgen unter der Kapuze eines Reiseumhangs. Vier Männer umringten sie; alles große, grobschlächtige Bauern mit kräftigen Stiernacken und vom Alkohol geröteten Wangen. Zwei von ihnen lehnten neben der Frau an der Wand, einer saß verkehrt herum auf einem Stuhl vor ihr und der vierte hatte den Stiefel auf die Kante des niedrigen Tisches gestellt und stützte sich auf das Knie. Die Männer redeten laut und ungezwungen. Obwohl Eragon nicht verstehen konnte, was die Frau sagte, war es für ihn offensichtlich, dass ihre Antwort die Bauern verärgerte. Sie funkelten sie an, warfen sich in die Brust und plusterten sich auf wie Gockel. Einer von ihnen deutete drohend mit einem Finger auf sie.
Für Eragon sahen sie aus wie anständige, schwer arbeitende Männer, deren Manieren ihnen in den Bierkrügen abhandengekommen waren. Diese Unsitte hatte er an Feiertagen in Carvahall schon allzu oft erlebt. Garrow hatte keinen Respekt vor Männern gehabt, die ihr Bier nicht vertrugen und trotzdem darauf bestanden, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. »Es ist unschicklich«, hatte er gesagt. »Wenn man nicht aus Spaß trinkt, sondern um sein Schicksal zu ersäufen, dann sollte man das zu Hause tun, wo man niemanden stört.«
Plötzlich beugte sich der Mann zur Linken der Frau vor und schob ihr einen Finger unter die Kapuze, als wollte er sie zurückstreifen. Fast zu schnell für Eragons Auge packte die Frau das Handgelenk des zudringlichen Kerls, dann ließ sie es jedoch wieder los, als sei nichts geschehen. Eragon bezweifelte, dass irgendjemand im Schankraum die Bewegung bemerkt hatte, wahrscheinlich nicht einmal der Mann selbst.
Die Kapuze fiel zurück und Eragon fuhr verblüfft zusammen. Die Frau war ein Mensch, sah aber aus wie Arya. Der einzige Unterschied waren ihre Augen - die rund waren und nicht schräg standen wie bei einer Katze - und die Ohren, denen die spitze elfische Form fehlte. Sie war genauso schön wie Arya, aber auf eine weniger exotische, vertrautere Weise.
Ohne zu zögern, schickte Eragon seinen Geist nach ihr aus. Er musste wissen, wer diese Frau war.
Sobald er ihr Bewusstsein berührte, wurde Eragon von einem geistigen Schlag getroffen, der seine Konzentration zerstörte. Dann hallte in seinem Kopf ein ohrenbetäubender Ausruf wider: Eragon!
Arya?
Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, bevor die Menge sich wieder verdichtete und die Elfe verbarg.
Eragon eilte durch den Schankraum an ihren Tisch, schob die dicht gedrängt stehenden Leiber beiseite, die ihm den Weg versperrten. Als er aus dem Gewühl trat, sahen die Bauern ihn scheel an und einer sagte: »Was willst du, Bursche? Ganz schön frech, wie du hier in unsere Runde platzt. Verzieh dich!«
So höflich wie möglich sagte Eragon: »Meine Herren, mir scheint, die Dame möchte lieber in Ruhe gelassen werden. Ihr wollt Euch doch nicht über die Wünsche einer ehrbaren Frau hinwegsetzen, oder?«
»Ehrbare Frau?«, lachte einer der Männer. »Ehrbare Frauen reisen nicht alleine.«
»Dann lasst mich Eure Sorge zerstreuen, denn ich bin ihr Bruder und wir sind auf dem Weg nach Dras-Leona zu unserem Onkel.«
Die vier Männer wechselten unbehagliche Blicke. Drei von ihnen wichen von Arya zurück, aber der vierte baute sich vor Eragons Nase auf und schnaufte ihm ins Gesicht. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir glauben soll, Bursche. Du willst uns doch bloß verscheuchen, damit du sie für dich hast.«
Er liegt gar nicht so falsch, dachte Eragon.
Mit so leiser Stimme, dass nur der Mann ihn verstand, erklärte Eragon: »Ich versichere Euch, sie ist meine Schwester. Ich möchte keinen Ärger mit Euch. Würdet Ihr bitte gehen?«
»Nein, denn ich glaube, du bist ein Lügenbold.«
»Herr, seid vernünftig. Es besteht kein Grund, so unhöflich zu sein. Die Nacht ist jung, und es gibt jede Menge Wein und Gesang, an dem man sich ergötzen kann. Lasst uns wegen eines kleinen Missverständnisses nicht streiten. Das ist doch unter unserer Würde.«
Zu Eragons Erleichterung entspannte sich der Mann und raunte spöttisch: »Gegen einen Jüngling wie dich würde ich sowieso nicht kämpfen.« Dann wandte er sich um und ging mit seinen Freunden zum Tresen.
Den Blick auf die Menschenmenge gerichtet, setzte Eragon sich zu Arya an den Tisch. »Was tust du hier?«, fragte er, wobei er die Lippen kaum bewegte.
»Dich suchen.«
Er warf ihr einen überraschten Blick zu und sie hob eine Augenbraue. Er schaute wieder auf die Menge, gab vor zu lächeln und fragte: »Bist du allein?«
»Jetzt nicht mehr... Hast du dir für die Nacht ein Zimmer genommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Ich habe eins. Dort können wir reden.«
Sie standen auf und er folgte ihr zur Treppe im hinteren Teil des Schankraums. Die ausgetretenen Stufen ächzten unter ihren Schritten, während sie in den ersten Stock stiegen. Eine einzelne Kerze erhellte den holzgetäfelten Korridor. Arya führte Eragon zur letzten Tür auf der rechten Seite und zog einen eisernen Schlüssel aus dem weiten Ärmel ihres Umhangs. Sie sperrte auf, betrat das Zimmer und wartete, bis Eragon ihr gefolgt war; dann schloss sie die Tür wieder und verriegelte sie von innen.
Von einer Laterne auf der anderen Seite des Marktplatzes fiel ein schwacher orangefarbener Lichtschein durch das bleiverglaste Fenster. Eragon konnte darin die Umrisse einer Öllampe erkennen, die rechts von ihm auf einem niedrigen Tisch stand.
»Brisingr«, flüsterte er und zündete den Docht mit einem Funken an, der ihm aus dem Finger sprang.
Trotz der brennenden Öllampe blieb es im Zimmer relativ dunkel. Der Raum war wie der Korridor getäfelt und das kastanienfarbene Holz schluckte einen Großteil des Lichts. So wirkte der Raum klein und erdrückend, als würde ein großes Gewicht die Wände zusammenpressen. Das einzige Möbelstück neben dem Tisch war ein schmales Bett mit einer dünnen Decke, auf der ein kleines Bündel mit Proviant lag.
Eragon und Arya standen sich gegenüber. Er nahm das Stirnband ab, die Elfe öffnete die Brosche, die den Umhang zusammenhielt, und legte ihn aufs Bett. Darunter trug sie ein waldgrünes Kleid. Es war das erste Mal, dass er sie in einem sah.
Es war eine seltsame Erfahrung für Eragon, dass sie die Rollen plötzlich getauscht hatten: Er sah aus wie ein Elf und sie wie ein Mensch. Die Verwandlung änderte nichts an seiner Hochachtung für sie, nur fühlte er sich jetzt in ihrer Gegenwart entspannter, da Arya ihm nicht mehr so fremd erschien.
Die Elfe brach das Schweigen. »Saphira sagt, du seist zurückgeblieben, um den letzten Ra’zac zu töten und den Helgrind zu erkunden. Ist das die Wahrheit?«
»Teilweise.«
»Und wie lautet die ganze Wahrheit?«
Mit weniger würde sie sich nicht zufriedengeben, das wusste Eragon. »Versprich mir, dass du ohne meine Erlaubnis niemandem verrätst, was ich dir erzähle.«
»Ich verspreche es«, sagte sie in der alten Sprache.
Dann erzählte er ihr von Sloan, warum er ihn nicht zu den Varden gebracht hatte und von seinem Fluch, der dem Metzger die Chance gab, sich zu bessern und das Augenlicht zurückzuerlangen. »Was auch geschieht«, beendete er seinen Bericht, »Roran und Katrina dürfen niemals erfahren, dass Sloan noch lebt. Sollten sie es herausfinden, gäbe es nur endlose Scherereien.«
Arya setzte sich auf die Bettkante und starrte lange auf die flackernde Flamme der Öllampe. »Du hättest ihn töten sollen«, sagte sie schließlich.
»Vielleicht, aber ich konnte es nicht.«
»Dass einem eine Aufgabe missfällt, ist noch lange kein Grund, sich vor ihr zu drücken. Du warst feige.«
Ihr Vorwurf erzürnte Eragon. »Ach wirklich? Jeder, der fähig ist, ein Messer zu halten, hätte Sloan umbringen können. Was ich getan habe, war viel schwieriger.«
»Körperlich vielleicht, aber nicht in moralischer Hinsicht.«
»Ich habe ihn nicht getötet, weil ich es für falsch hielt.« Eragon legte die Stirn in Falten, während er nach den richtigen Worten suchte, sein Verhalten zu erklären. »Ich hatte keine Angst davor … Im Kampf töte ich ja auch, ohne zu zögern... Aber ich fälle kein Urteil darüber, wer leben darf und wer sterben muss. Dazu fehlt mir die Erfahrung und die Weisheit... Jeder Mensch hat eine Grenze, die er nicht überschreitet, Arya, und meine habe ich gefunden, als ich auf Sloan hinunterblickte. Selbst wenn Galbatorix mein Gefangener wäre, würde ich ihn nicht töten. Ich würde ihn zu Nasuada und König Orrin bringen, und falls sie ihn zum Tode verurteilten, würde ich ihm freudig den Kopf abschlagen, aber vorher nicht. Meinetwegen nenne es Schwäche, aber so bin ich nun mal und ich werde mich nicht dafür entschuldigen.«
»Willst du lieber ein Werkzeug in den Händen anderer sein?«
»Ich werde den Völkern, so gut ich kann, dienen. Ich habe nie nach Führerschaft gestrebt. Alagaësia braucht nicht noch einen Tyrannenkönig.«
Arya rieb sich die Schläfen. »Warum muss bei dir immer alles so kompliziert sein, Eragon? Egal wo du hingehst, überall bringst du dich in Schwierigkeiten. Es ist so, als würdest du dich absichtlich durch jedes Dornengestrüpp kämpfen, das es im Land gibt.«
»Deine Mutter hat mehr oder weniger das Gleiche gesagt.«
»Das überrascht mich nicht... Nun, sei’s drum. Keiner von uns beiden ist gewillt, seine Meinung zu ändern, und wir haben dringlichere Sorgen, als über Gerechtigkeit und Moral zu streiten. In Zukunft tätest du allerdings gut daran, dich zu erinnern, wer du bist und was du für die Völker Alagaësias bedeutest.«
»Das vergesse ich nie.« Eragon machte eine Pause, wartete auf eine Antwort, doch Arya ließ seine Bemerkung unkommentiert. An die Tischkante gelehnt, erklärte er: »Du hättest nicht nach mir suchen müssen. Es war alles in Ordnung.«
»Natürlich musste ich es tun.«
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ich habe überlegt, welchen Weg du vom Helgrind aus nehmen würdest. Zum Glück lag ich einigermaßen richtig, als ich an einem Ort vierzig Meilen westlich von hier landete. Das war nahe genug, um dich aufzuspüren, indem ich dem Flüstern der Natur lauschte.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ein Drachenreiter bewegt sich nicht unbemerkt auf dieser Welt, Eragon. Wer Ohren hat, um zu hören, und Augen, um zu sehen, kann die Zeichen mühelos lesen. Die Vögel verkünden dein Kommen, die Tiere am Boden wittern dich und die Bäume und Gräser erinnern sich an deine Berührung. Das Band zwischen einem Reiter und seinem Drachen ist so stark, dass jene, die für die Schwingungen in der Natur empfänglich sind, es spüren können.«
»Den Trick musst du mir irgendwann mal beibringen.«
»Es ist kein Trick, lediglich die Kunst, auf das zu achten, was einen umgibt.«
»Aber warum bist du nach Eastcroft gekommen? Es wäre doch sicherer gewesen, sich außerhalb des Dorfes zu treffen.«
»Die Umstände haben mich dazu gezwungen, wie dich vermutlich auch. Du bist ebenfalls nicht freiwillig hier, oder?«
»Stimmt...« Er lockerte die Schultern, erschöpft vom langen Tagesmarsch. Doch er schob die Müdigkeit beiseite und deutete auf ihr Kleid. »Hast du Hemd und Hose endgültig abgelegt?«
Ein leises Lächeln umspielte Aryas Lippen. »Nein, nur für die Dauer dieser Reise. Ich habe jahrzehntelang unter den Varden gelebt, und trotzdem vergesse ich immer wieder, wie gerne es die Menschen sehen, dass Männer und Frauen sich unterschiedlich kleiden. Ich konnte mich nie dazu überwinden, eure Sitten und Gebräuche anzunehmen, auch wenn ich viele Verhaltensweisen meines Volkes abgelegt habe. Wer hätte mir etwas vorschreiben sollen? Meine Mutter? Die lebte am anderen Ende Alagaësias.« Sie schwieg, als hätte sie schon zu viel gesagt. »Jedenfalls hatte ich«, fuhr sie fort, »eine unangenehme Begegnung mit zwei Ochsenhirten, kurz nachdem ich die Varden verlassen hatte, und danach habe ich dieses Kleid gestohlen.«
»Es steht dir gut.«
»Als Zauberkundiger hat man den Vorteil, dass man niemals auf einen Schneider warten muss.«
Eragon lachte, dann fragte er. »Und jetzt?«
»Jetzt ruhen wir uns aus. Morgen verschwinden wir in aller Frühe aus Eastcroft und dann sehen wir weiter.«
 
In der Nacht lag Eragon auf dem Boden. Er hätte in jedem Fall darauf bestanden, dass Arya das Bett bekam, aber diese Übereinkunft hatte nichts mit Rücksichtnahme oder Höflichkeit zu tun, sondern war eine reine Vorsichtsmaßname. Falls irgendjemand ins Zimmer platzte, könnte es seltsam erscheinen, eine auf dem Boden liegende Frau vorzufinden.
Während die Stunden dahinkrochen, starrte Eragon zu den Dachbalken hinauf und verfolgte die Risse im Holz, unfähig, seine rasenden Gedanken zu beruhigen. Er versuchte alles, um sich zu entspannen, aber seine Gedanken kehrten ständig zu Arya zurück, zu seiner Überraschung, ihr so unerwartet zu begegnen, zu ihrer Reaktion, als er ihr von der Sache mit Sloan erzählte, und vor allem zu seinen Gefühlen für die Elfe. Er war sich nicht ganz sicher, welcher Natur sie waren. Er sehnte sich nach Aryas Nähe, aber seit sie ihn abgewiesen hatte, mischten sich in seine Zuneigung zu ihr Schmerz und Wut - und auch Frustration. Obwohl er sich weigerte zu akzeptieren, dass sein Werben aussichtslos war, hatte er keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte.
In seiner Brust begann es zu schmerzen, während er Aryas leisen Atemzügen lauschte. Es quälte ihn, ihr so nahe zu sein, sie jedoch nicht berühren zu können. Er knetete den Stoff seines Wamses und wünschte, etwas tun zu können, statt sich in sein trauriges Schicksal ergeben zu müssen.
Bis weit in die Nacht rang er mit seinen begehrlichen Gefühlen, bis er schließlich der Erschöpfung erlag und in die wartende Umarmung seiner Wachträume glitt. Darin wanderte er einige Stunden unruhig umher, bis die Sterne allmählich verblassten und es für ihn und Arya Zeit wurde, Eastcroft zu verlassen.
Sie öffneten das Fenster und sprangen die zwölf Fuß bis zur Erde; ein kleiner Satz für jemanden mit elfischen Fähigkeiten. Im Fallen hielt Arya den Rock ihres Kleides gepackt, damit er sich nicht aufbauschte. Sie landeten wenige Handbreit voneinander entfernt und rannten zwischen den Häusern in Richtung der Palisaden.
»Die Leute werden sich fragen, wo wir abgeblieben sind«, überlegte Eragon im Laufen. »Vielleicht hätten wir warten und wie normale Reisende weiterziehen sollen.«
»Es wäre riskanter, länger zu bleiben. Ich habe für das Zimmer bezahlt. Das ist das Einzige, was die Wirtin interessiert, nicht ob wir in aller Frühe hinausgeschlichen sind.« Sie trennten sich kurz, um einen klapprigen Holzkarren zu umrunden, dann fügte Arya hinzu: »Am wichtigsten ist es, in Bewegung zu bleiben. Wenn wir länger an einem Ort verweilen, findet uns der König.«
Als sie den Palisadenzaun erreicht hatten, schritt Arya daran entlang, bis sie einen Pfosten entdeckte, der etwas vorstand. Sie legte die Hände darum und zog kräftig, prüfte, ob das Holz ihr Gewicht trug. Der Pfosten wackelte etwas, aber er hielt.
»Du zuerst«, sagte Arya.
»Bitte, nach dir.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer deutete sie auf ihren Aufzug. »Ein Kleid ist luftiger als eine Hose, Eragon.«
Er wurde rot, als er verstand, worauf sie hinauswollte. Er packte den Pfosten in Höhe seines Kopfes und begann, an der Palisade hinaufzuklettern, wobei er sich mit Knien und Füßen abstützte. Oben angekommen, balancierte er auf den angespitzten Pflöcken.
»Spring!«, flüsterte Arya.
»Nicht ohne dich.«
»Sei nicht so...«
»Ein Wachmann!«, rief Eragon leise und deutete hinter sie. Zwischen zwei Häusern war in der Dunkelheit eine Laterne aufgetaucht. Während das Licht näher kam, schälten sich die Umrisse eines Mannes aus der Finsternis. Er hatte sein Schwert gezückt.
Lautlos wie ein Gespenst griff Arya nach dem Pfosten und zog sich Hand für Hand nach oben. Sie schien beinahe hinaufzugleiten, wie durch Magie. Als sie nahe genug war, packte Eragon ihren rechten Unterarm und zog sie das letzte Stück zu sich hinauf. Wie zwei merkwürdige Vögel hockten sie reglos auf den Palisaden, während unter ihnen der Wachmann vorbeischritt. Er schwenkte die Laterne in beide Richtungen, hielt nach Eindringlingen Ausschau.
Schau jetzt nicht hoch, flehte Eragon.
Im nächsten Moment schob der Wachmann das Schwert in die Scheide und setzte summend seine Runde fort.
Ohne ein Wort sprangen Eragon und Arya auf der anderen Seite der Palisaden hinunter. Die Rüstung in seinem Rucksack klapperte, als er auf der grasbewachsenen Böschung landete und sich abrollte, um die Wucht des Aufpralls abzufangen. Dann sprang er auf und eilte geduckt durch die graue Landschaft davon, dicht gefolgt von Arya. Sie hielten sich in Senken und ausgetrockneten Wasserläufen, während sie an den Höfen vorbeirannten, die rings um das Dorf verstreut waren. Ein paarmal kamen aufgeschreckte Hunde herausgestürmt, die ihr Revier verteidigen wollten. Eragon versuchte, sie mit seinem Geist zu beruhigen, aber wie er bald merkte, war es am sinnvollsten, einfach weiterzurennen. So glaubten die Kläffer, den ungebetenen Besuch mit gefletschten Zähnen und Gebell verscheucht zu haben, und kehrten schwanzwedelnd zu den Scheunen und Häusern zurück, von wo sie weiter über ihr kleines Reich wachten. Ihre Genügsamkeit amüsierte Eragon.
Als fünf Meilen hinter Eastcroft klar wurde, dass ihnen tatsächlich niemand folgte, blieben Eragon und Arya neben einem verkohlten Baumstumpf stehen. Kniend schaufelte Arya mehrere Handvoll Erde aus dem Boden. »Adurna rïsa«, sagte sie. Mit einem leisen Plätschern stieg aus dem umgebenden Erdreich Wasser auf und füllte das von Arya gegrabene Loch. Als es randvoll war, sagte die Elfe: »Letta.« Das Sprudeln hörte auf.
Sie beschwor die Traumsicht herauf und auf der Wasseroberfläche erschien Nasuadas Antlitz. Arya begrüßte sie.
»Lehnsherrin«, sagte Eragon und verneigte sich.
»Drachenreiter«, entgegnete die Anführerin der Varden. Sie wirkte erschöpft, hatte eingefallene Wangen, als wäre sie lange krank gewesen. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, und als Nasuada die widerspenstige Strähne zurückstrich, bemerkte Eragon den dicken Verband an ihrem Unterarm. »Du bist in Sicherheit, Gokukara sei Dank. Wir haben uns große Sorgen gemacht.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich beunruhigt habe, aber ich hatte gute Gründe für mein Verhalten.«
»Die erklärst du mir am besten, wenn du zurück bist.«
»Wie du wünschst«, sagte er. »Woher stammen deine Verletzungen? Wurdest du angegriffen? Warum hast du dich nicht von einem Mitglied der Du Vrangr Gata heilen lassen?«
»Ich habe den Magiern befohlen, mich in Ruhe zu lassen. Auch darüber reden wir, wenn du zurück bist.« Eragon nickte verwirrt und schluckte seine vielen Fragen hinunter. Zu Arya sagte Nasuada: »Ich bin beeindruckt. Du hast ihn gefunden. Ich war mir nicht sicher, ob es dir gelingen würde.«
»Das Glück war mir hold.«
»Mag sein. Aber ich vermute, dass deine Fähigkeiten dabei eine ebenso große Rolle gespielt haben. Wann seid ihr zurück?«
»In zwei, drei Tagen, falls nichts dazwischenkommt.«
»Gut. Ich erwarte euch. Ich wünsche, dass ihr ab jetzt täglich vor der Mittagsstunde und vor Sonnenuntergang Verbindung mit mir aufnehmt. Sollte ich nichts von euch hören, gehe ich davon aus, dass ihr in Gefangenschaft geraten seid. Dann schicke ich Saphira und einen Rettungstrupp los.«
»Wir werden nicht immer einen Ort finden, der abgelegen genug ist, um ungestört Magie wirken zu können.«
»Dann findet eine Lösung. Ich muss wissen, wo ihr beiden steckt und dass alles in Ordnung ist.«
Arya überlegte einen Moment. »Ich werde tun, was du verlangst, aber nur, solange es Eragon nicht in Gefahr bringt.«
»Abgemacht.«
Eragon nutzte die anschließende Gesprächspause und fragte: »Nasuada, ist Saphira in der Nähe? Ich würde gerne mit ihr sprechen... Wir haben seit dem Helgrind nicht mehr miteinander geredet.«
»Sie ist vor einer Stunde zu einem Erkundungsflug aufgebrochen. Könnt ihr den Zauber aufrechthalten, während ich in Erfahrung bringe, ob sie inzwischen zurückgekehrt ist?«
»Ja«, sagte Arya.
Nasuada verschwand aus ihrem Blickfeld und zurück blieb das Bild des Tisches und der Stühle im roten Kommandozelt. Eragon betrachtete es eine Weile, dann wurde er unruhig und ließ die Augen zu Aryas Nacken wandern. Ihr volles schwarzes Haar fiel auf eine Seite und offenbarte über dem Kragen ihres Kleides einen zarten Hautstreifen. Der Anblick bannte Eragon beinahe eine volle Minute, dann regte er sich und lehnte sich gegen den verkohlten Baumstumpf.
Plötzlich ertönte das Geräusch von berstendem Holz und auf der Wasseroberfläche erschienen zahlreiche schimmernde blaue Schuppen, als Saphira sich in den Pavillon zwängte. Eragon konnte nicht erkennen, welchen Teil von ihr er sah. Die Schuppen glitten über das Wasser und er erhaschte einen Blick auf die Unterseite eines Schenkels, dann auf eine Zacke an ihrem Schwanz und auf die herabhängende Flügelhaut einer angelegten Schwinge. Schließlich rückte eine glitzernde Zahnspitze ins Bild, während Saphira sich umwandte und versuchte, eine Position einzunehmen, von der aus sie halbwegs bequem in den Spiegel schauen konnte. Aus den besorgniserregenden Geräuschen hinter Saphira schloss Eragon, dass sie bei ihren Bemühungen den Großteil des Mobiliars zertrümmerte. Schließlich hatte sie es sich bequem gemacht, schob den Kopf dicht vor den Spiegel - sodass ein großes saphirfarbenes Auge die gesamte Wasseroberfläche ausfüllte - und sah Eragon an.
Eine Weile betrachteten sie einander schweigend, keiner der beiden rührte sich. Es überraschte Eragon, wie erleichtert er war, sie zu sehen. Seit ihrer Trennung hatte er sich nicht mehr richtig sicher gefühlt.
»Ich vermisse dich«, flüsterte er schließlich.
Sie blinzelte einmal. »Nasuada, bist du noch da?«
Die gedämpfte Antwort kam von irgendwo seitlich von Saphira. »Ja, gerade so.«
»Würdest du mir bitte übermitteln, was Saphira sagt?«
»Das würde ich ja gerne, aber im Moment bin ich zwischen einem Flügel und einem Holzpfosten eingeklemmt und komme hier nicht raus. Du wirst Schwierigkeiten haben, mich zu verstehen. Wenn du mir das nachsehen kannst, werde ich es versuchen.«
»Ja, bitte.«
Nasuada schwieg kurz, dann sagte sie in einem Tonfall, der Saphiras so ähnlich war, dass Eragon beinahe aufgelacht hätte: »Bist du wohlauf?«
»Ich bin gesund wie ein Ochse. Und wie geht’s dir?«
»Mich selbst mit einem Rind zu vergleichen, wäre genauso lächerlich wie beleidigend, aber mir geht es blendend. Ich bin froh, dass Arya bei dir ist. Es ist gut, dass du jemanden an deiner Seite hast, der dir den Rücken freihält.«
»Finde ich auch. Hilfe kann man immer gebrauchen.« Eragon war dankbar, dass er mit Saphira reden konnte, auch wenn es so ein wenig umständlich war. Allerdings schien ihm das gesprochene Wort nur ein armseliger Ersatz für den freien Austausch von Gedanken und Gefühlen, den sie normalerweise untereinander genossen. Außerdem wollte er in Aryas und Nasuadas Gegenwart nur ungern persönliche Dinge ansprechen, zum Beispiel ob Saphira ihm verzieh, dass er sie am Helgrind fortgeschickt hatte. Ihr ging es offenbar genauso, denn auch sie sparte das Thema aus. Sie plauderten eine Weile über dies und das und verabschiedeten sich dann. Bevor er von dem Wasserloch zurücktrat, formte er mit den Lippen lautlos die Worte: Es tut mir leid.
Der Abstand zwischen den kleinen Schuppen, die Saphiras Auge umgaben, vergrößerte sich ein wenig, als sich das darunterliegende Fleisch entspannte. Dann zwinkerte sie ihm zu, und Eragon wusste, dass sie ihm nicht böse war.
Nachdem er und Arya sich auch von Nasuada verabschiedet hatten, löste die Elfe den Zauber und erhob sich. Mit dem Handrücken klopfte sie sich den Staub vom Kleid.
Währenddessen wurde Eragon ganz unruhig. Am liebsten wäre er direkt zu Saphira gerannt und hätte sich am Lagerfeuer an sie gekuschelt.
»Auf geht’s«, sagte er und lief bereits los.

 

 

Die Weisheit des Feuers
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